Kategorie: Kolumne

Mal nachdenklich, mal witzig, mal herausfordernd – in regelmäßigen Abständen berichten unsere Kolumnisten von unterschiedlichen Themen, die sie gerade bewegen.

  • Ein Plädoyer für die Demokratie in Deutschland

    Es gibt ein Sprichwort, das besagt, man solle nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Aber für jemanden wie mich – eine junge Frau mit kurdischen und russischen Wurzeln, die in Deutschland aufgewachsen ist – gab es oft keinen anderen Weg. Diese Wände waren überall: Im Klassenzimmer, wo mein Name nie richtig ausgesprochen wurde. Auf dem Schulhof, wo ich erklärt habe, warum ich zu Hause kein Schweinefleisch esse; und später bei Bewerbungen, wo mein Doppelname länger diskutiert wurde als meine Qualifikationen.

    Als Jugendliche habe ich mich gefragt, wie viel Mühe es eigentlich braucht, um dazuzugehören. Perfektes Deutsch, perfekte Manieren, perfekte Anpassung – und doch blieb dieses nagende Gefühl, dass der Ort, den man Heimat nennen will, einen nicht ganz anerkennt. Es hat wehgetan, immer in der Fremde gesehen zu werden, auch wenn ich keinen Ort auf der Welt besser kenne als diesen.

    Aber wer nur Wände sieht, übersieht leicht die Fenster. Deutschland hat mir nicht nur Widerstand, sondern auch Möglichkeiten gegeben. Hier habe ich gelernt, für mich einzustehen, meine Stimme zu finden, laut zu sein. Deutschland hat mich herausgefordert, aber es hat mir auch gezeigt, was alles möglich ist, wenn man bereit ist, für sich selbst einzustehen und mit dem Kopf durch die Wand zu brechen. Es ist dieses Spannungsfeld, das ich schätze: ein Land, das manchmal herausfordernd ist, aber mir die Freiheit gibt, diese Herausforderungen zu hinterfragen und an ihnen zu wachsen. 

    Ich liebe Deutschland nicht, weil es perfekt ist – sondern weil es Fehler hat und sie im besten Fall zu korrigieren versucht. Weil hier auch ein Kind aus einer kurdischen Familie Kanzler:in werden könnte. Weil Debatten laut, anstrengend und widersprüchlich sind, aber immerhin geführt werden. Und weil ich hier gelernt habe, dass Zugehörigkeit nicht bedeutet, stillschweigend zu übernehmen, sondern mitzugestalten.

    Doch in diesen Tagen, in denen Deutschland taumelt, fühle ich Sorge. Die politische Landschaft wirkt wie ein wankender Boden. Eine Regierung ist gescheitert, die nächste droht nicht weniger zerbrechlich zu sein. Und während Krisen gären – Inflation, Außenpolitik, Klimawandel – bahnen sich gefährliche Strömungen ihren Weg an die Oberfläche. Stimmen, die Hass predigen, die „wir gegen die anderen“ schreien, die auf Ausgrenzung und Angst setzen, werden lauter.

    Ich weiß, was es heißt, nicht verstanden zu werden. Aber ich weiß auch, was es bedeutet, ignoriert zu werden. Und wenn ich eine Botschaft an die weitergeben darf, die sich von Deutschland gerade verraten oder enttäuscht fühlen: Nicht zu wählen oder sich aus Trotz den Feinden der Demokratie zuzuwenden, hilft niemandem. Wut, Frust oder Unzufriedenheit dürfen uns nicht blind machen. Sie dürfen uns nicht dazu bringen, falsche Entscheidungen zu treffen.

    Es gibt keine perfekte Partei, die jede unserer Hoffnungen oder Ansichten zu 100 Prozent repräsentiert – und diese wird es auch nie geben. Aber in einer Demokratie geht es nicht um Perfektion, sondern um das Aushandeln des Möglichen, um Kompromisse, die unsere Werte schützen. Jeder, der aus Enttäuschung oder Gleichgültigkeit nicht wählt, überlässt das Spielfeld denen, die mit Faschismus und Spaltung die Grundpfeiler unseres Zusammenlebens zerstören wollen. Jede verlorene Stimme macht die Stimmen derjenigen lauter, die Hass und Angst verbreiten.

    Gehen wir also wählen – nicht aus blindem Egoismus, sondern aus klarem Bewusstsein. Weil wir ein Deutschland brauchen, das für Freiheit, Gerechtigkeit und Vielfalt steht. Ein Deutschland, das wir lieben können, auch wenn es manchmal hart ist. Ein Deutschland, das Fehler machen darf, aber niemals den Fehler, den Faschismus zu ignorieren und die dunkelsten Kapitel seiner Geschichte zu wiederholen. 

  • Duftgeschichten aus meiner Heimat – der Zauber von Bukhoor

    Sonntags gehört mein Zuhause der Welt. Freunde, Familie, Nachbarn – sie alle finden sich an meinem Tisch ein, der einer kleinen Festtafel gleicht. Der Duft von warmem Blätterteig mischt sich mit der Salzigkeit frischer Oliven und dem feinen Aroma goldgelber Eier. Zwischen den Schalen mit süßen Datteln, leuchtendem Obst und samtigen Marmeladen thront die Kanne Schwarztee, dampfend und voller Geheimnisse. Dieser Tee, mit Rosenknospen durchsetzt, hat seinen Ursprung auf einem kleinen Basar, verborgen in den Gassen Erbils. Sein Duft gleicht einem Gedicht: leicht blumig, zart herb und doch unvergleichlich sanft. Doch auch wenn das Frühstück für sich bereits aufwändige Aromenkunst ist, bleibt es nur die Bühne für ein anderes Schauspiel. Denn in meinem Zuhause verschmilzt der Duft von Speisen mit einem subtilen, beständigen Wohlgeruch, der die Sinne umschmeichelt, ohne sie zu überwältigen. 

    „Hier riecht es immer so toll“, sagen meine Gäste; und sie tun es jedes Mal. Dieser Duft – eine Mischung aus sauberem, pudrigem Moschus und gelegentlich einer sanften floralen Nuance – ist wie eine unsichtbare Umarmung. Er erinnert an die Reinheit alter Moscheen, an einen Ort, an dem Zeit keine Rolle spielt und die Luft voller Geschichten schwebt. Heute möchte ich dieses Geheimnis lüften. Betrachte es als eine Einladung in meine Welt . Der Duft, der meine Räume erfüllt, nennt sich Bukhoor.

    Was ist Bukhoor?

    Bukhoor ist weit mehr als ein Duft; es ist eine jahrhundertealte Tradition, ein Ritual, das die Luft, die Menschen und manchmal auch die Seele reinigt. Der Begriff bezeichnet kleine Duftchips, oft aus getränktem Holz, um Räume mit Wohlgeruch zu füllen. Anders als Parfum, das die Haut schmückt, gehört Bukhoor dem Raum – es wird zelebriert, nicht einfach versprüht. Die Basis eines guten Bukhoor sind sorgfältig ausgewählte Hölzer, meist Adlerholz, die mit einer Mischung aus ätherischen Ölen, Harzen und Gewürzen getränkt werden. Die Kombination variiert je nach Herkunftsland, Tradition und manchmal auch nach Familienrezepten. Mein persönlicher Favorit vereint weißen Moschus, Rosenblüten und einen Hauch von Amber – eine Komposition, die wie eine leise Umarmung in der Luft schwebt.

    Das Ritual des Bukhoor

    Bukhoor zu verbrennen ist ein Ritual, das Ruhe erfordert. Auf einer kleinen Kohle oder einem elektrischen Räuchergefäß entfalten die Chips ihren Duft langsam, wie ein kostbares Geheimnis, das nur in Schichten offenbart wird. Anfangs ist es rauchig, intensiv, beinahe feierlich – ein Duft, der Raum einnimmt, ohne sich aufzudrängen. Doch dann, nach wenigen Minuten, wird der Rauch weicher. Er umarmt Kissen, Vorhänge und Wände, bis alles in eine unsichtbare Wolke aus Sanftheit gehüllt ist. Doch Bukhoor ist nicht nur ein Geschenk für Räume, sondern auch für uns selbst. In den raffiniertesten Traditionen wird der feine Rauch genutzt, um Haare und Kleidung zu beduften. Die duftenden Schwaden ziehen sich durch die Haarsträhnen, legen sich sanft auf Stoffe und verleihen ihnen einen dezenten, langanhaltenden Hauch von Luxus. 

    Für viele, die mein Zuhause betreten, ist Bukhoor eine neue Entdeckung. „Wie heißt das?“, fragen sie und ich sehe in ihren Augen die Neugier, die ich so liebe. Vielleicht ist das der wahre Zauber dieses Dufts: Er bringt Menschen zusammen, eröffnet Gespräche und lädt dazu ein, die Welt ein kleines bisschen anders wahrzunehmen. Wenn du das nächste Mal deine Liebsten empfängst, probiere es doch gerne aus. Zünde Bukhoor an, lass den Rauch durch deine Räume ziehen, über deine Kleidung und vielleicht auch durch dein Haar gleiten – und sieh, was geschieht. 


    In einer früheren Version dieses Artikels kam wiederholt der Begriff „Orient“ vor. Unsere Autorin hat diesen Begriff genutzt, um alle im westasiatischen Raum vertretenen Kulturen zusammenzufassen und für die Leser*innen zugänglich zu schreiben. Um den Lesefluss nicht zu stören, hat sie sich dagegen entschieden, jede gemeinte Kultur aufzuzählen. Bei dem Begriff „Orient“ handelt es sich allerdings um eine westliche und koloniale Fremdbezeichnung, die wir nicht reproduzieren sollten und zukünftig werden. Zudem enthielt der Beitrag Passagen, die dieses koloniale Narrativ reproduzieren und von unserer Community als unsensibel erkannt wurden. Dafür bitten wir um Entschuldigung. Wir haben den Text dementsprechend angepasst. Vielen Dank, dass ihr eure Kritik so offen kommuniziert habt!

  • „Ich dachte, nach dem Studium würde ich dazu gehören!“

    Unser Leben war geprägt von Umzügen und Unsicherheiten. Bildung hatte die höchste Priorität zu Hause – sie sei der Schlüssel zur Zukunft und Akzeptanz. Also lernte ich und arbeitete hart, egal was um mich herum passierte. Trotz einschneidender Ereignisse und finanzieller Hürden absolvierte ich mein Studium und kam damit meinem Traum, Lehrerin zu werden, näher.

    Während des ersten Telefongesprächs mit der Leitung der mir zugewiesenen Schule wurde ich sehr freundlich behandelt. Doch das Verhalten änderte sich merklich, als man mich das erste Mal sah. Ich wurde gebeten, ein Formular für die Statistik auszufüllen. Jung und gutgläubig tat ich dies ohne Nachfragen. Als ich das Feld zur Konfession ausfüllte, war die Reaktion Erstaunen. „Ich dachte, Sie seien konvertiert“, hörte ich. Als ich dies verneinte, versicherte sie mir, dass sie nichts dagegen habe. In diesem Moment wurde mir mulmig. Wieso sollte jemand etwas dagegen haben? Wogegen?

    Am ersten Tag kam ich eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt, holte den Schlüssel ab und wartete im Lehrerzimmer. Als die Schulleitung in der Pause eintrat, ging ich zu ihr. Sie sprach zunächst mit allen anderen Kollegen. Als ich schließlich an der Reihe war und meinen Stundenplan besprechen wollte, verlor sie vor den Kolleg*innen den gewahrten Respekt, schrie mich an und machte mir nicht nachvollziehbare Vorwürfe. Ich wäre zu spät erschienen. Ich versuchte mich zu erklären, denn ich war wesentlich früher da gewesen, doch ich fand kein Gehör. Überwältigt, schwieg ich schließlich.

    Zu Hause konnte ich bei meiner Mutter alles rauslassen: „Ich dachte, nach dem Studium gehöre ich dazu!“

    Die darauffolgenden Wochen waren geprägt von Schikanen, Erschwernissen und sogar persönlichen Angriffen. Dies führte schließlich dazu, dass ich mit dem Gedanken spielte, das Referendariat abzubrechen. Doch Freunde und Familie schenkten mir Kraft, sodass für mich einstehen konnte und schließlich die Schule wechselte.

    Doch bevor ich ging, ließ man seinem Ärger freien Lauf zu lassen und teilte mir mit, dass ich für den Job nicht geeignet sei und meine Berufswahl überdenken sollte. Ich schwieg.

    Verunsichert kam ich an die neue Schule. Hier war man offen, hieß mich willkommen und freute sich über meine Unterstützung. Hier sah man mich. Hier gab man mir eine Chance. Nach erfolgreicher Absolvierung des Vorbereitungsdienstes hatte ich die Wahl zwischen mehreren Stellenangeboten.

    Die ersten Wochen meiner praktischen Ausbildung waren sehr prägend und beschäftigten mich noch Jahre danach. Ich wurde nicht ernst genommen, mir wurden viele Steine in den Weg gelegt und meine Abhängigkeit ausgenutzt. In der Schule blieb ich standhaft, während ich zu Hause unendlich viele Tränen vergoss – so sah mein Leben wochenlang aus.

    Doch ich beendete das Referendariat erfolgreich. Währenddessen und all den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit hat mir die Freude am Unterrichten und das Miteinander mit meinen Schüler*innen sowie den Kolleg*innen gezeigt, dass der Lehrberuf meine Berufung ist. Ich bin glücklich, dass ich nicht aufgegeben habe und selbstbewusst genug war, um als Anfängerin nicht auf „Sie sind für den Beruf nicht geeignet“ zu hören.

    Meinem damaligen Ich, auf dem Sofa meiner Mutter, möchte ich sagen: „Du gehörst dazu! Manche Menschen richten ihren Frust auf andere. Zu ihnen willst du nicht gehören! Zu ihnen solltest du nicht gehören! Geh deinen Weg und du wirst sein, wo du immer sein wolltest!“

  • Mehrsprachigkeit: Herausforderungen und Chancen

    Mehrsprachigkeit in der Schule ist eine Realität, die jedoch oft unbeachtet bleibt oder kritisch hinterfragt wird. Wenn Schüler*innen Französisch oder Englisch sprechen oder entsprechende Akzente aufweisen, wird dies als unproblematisch und sogar als Bildungsvorteil angesehen. Sprachen wie Türkisch oder Arabisch hingegen werden oft als Problem und Bildungshindernis wahrgenommen.

    Besonders deutlich wurde dies 2018, als Prinzessin Charlotte in deutschen Medien aufgrund ihrer Bilingualität als hochbegabt dargestellt wurde. Schnell kam in den sozialen Medien Kritik auf: Während die Mehrsprachigkeit der Prinzessin gefeiert wurde, wird die der Kinder aus weniger privilegierten Elternhäusern und mit Migrationshintergrund häufig problematisiert.

    Auch im schulischen Kontext zeigt sich dieses Phänomen. Oft stellt sich die Frage: „Kann das Kind überhaupt Deutsch?“. Mehrsprachigkeit wird, je nach Sprache, schnell als Identifikationsmerkmal oder gar als Ursache von Defiziten gesehen. Als ich einmal mit Schüler*innen einer 6. Klasse über Herkunft und Identität sprach, bestätigte mir eine Kollegin vor den Kindern, die alle in Deutschland geboren und sozialisiert waren, dass sie „nicht deutsch“ seien, weil sie zu Hause eine andere Sprache sprächen. „Ich spreche auch andere Sprachen und sehe mich dennoch als Deutsche!“, entgegnete ich. Die Kollegin reagierte überrascht mit einem „interessant“.

    Sie war sich ihrer Ausgrenzung nicht bewusst und sah eine andere Sprache tatsächlich als Hindernis an. Dass ich, eine ausgebildete Lehrkraft ohne jegliche sprachlichen Defizite, zu Hause eine andere Sprache spreche, war für sie unerwartet.

    Der Schulalltag stellt uns vor Herausforderungen: Lehrpläne, Zeitdruck und mangelnde Ressourcen lassen oft wenig Raum für sprachliche Vielfalt. Wie gehen wir mit Schüler*innen um, die kaum Deutsch sprechen? Wie unterstützen wir sie, ohne sie auszugrenzen? Wie begegnen wir Lehrkräften, die unsicher sind, wenn sie mit einer sprachlichen Vielfalt konfrontiert werden, die sie nicht kennen? Diese Fragen beeinflussen die Haltung der Lehrkräfte – gezielte Unterstützung und Fortbildungen sind daher unverzichtbar.

    „Deutsch bleibt zweifellos der Schlüssel zu Bildung und Teilhabe, doch Mehrsprachigkeit darf nicht als Hindernis gesehen werden“

    Dabei ist es für viele Schüler*innen selbstverständlich, im Alltag mehrere Sprachen zu nutzen. Zu Hause sprechen sie eine Sprache, in der Schule eine andere, und oft noch eine dritte mit Freund*innen. Selbst Menschen ohne Migrationsgeschichte erleben ähnliche Mehrsprachigkeit durch die Digitalisierung, Filme, Serien oder globale Interaktionen auf Plattformen. Eine Schulfreundin lernte beispielsweise Mandarin durch Filme, und meine Schwester brachte sich in ihrer Freizeit Koreanisch bei.

    Auch bei Lehrkräften spielt Mehrsprachigkeit eine Rolle. Es ist vorgekommen, dass ich Schüler*innen auf Dari unterstützt oder bei Elterngesprächen Übersetzungen überprüft habe. Viele Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte tragen ihre Mehrsprachigkeit in sich, nutzen sie jedoch zu selten. Dabei könnten sie ein wertvolles Vorbild sein.

    Als Lehrerin mit eigener Migrationsgeschichte sehe ich die Chancen, aber auch die Herausforderungen der Mehrsprachigkeit. Zu oft wird sie als Defizit betrachtet, das überwunden werden muss. „Erst mal richtig Deutsch lernen!“, heißt es dann – eine Forderung, die mehr ablehnt als integriert. Deutsch bleibt zweifellos der Schlüssel zu Bildung und Teilhabe, doch Mehrsprachigkeit darf nicht als Hindernis gesehen werden.

    Sie bietet große Chancen: Das Wechseln zwischen Sprachen erfordert kognitive Fähigkeiten, die die Forschung längst als Ressource erkannt hat. Mehrsprachige Kinder können oft schneller Perspektiven wechseln, Muster erkennen und sich auf neue Situationen einstellen. Sie verkörpern die Komplexität unserer globalisierten Welt – eine Kompetenz, die es zu fördern gilt.

    Mehrsprachigkeit ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Die Integration in Lehrpläne, Methoden und Erwartungen mag zunächst herausfordernd wirken, doch die Vorteile überwiegen: Die Identitäten und Lebensrealitäten der Schüler*innen werden sichtbar, der Selbstwert gestärkt und das soziale Miteinander gefördert.

    Wenn wir Mehrsprachigkeit als Stärke begreifen, können unsere Schulen Orte werden, die die Realität unserer vielfältigen Gesellschaft widerspiegeln und bereichern. Die Zukunft ist global und divers. Wenn wir die individuellen Stärken fördern, stärken wir die Gemeinschaft – mit Inklusion statt Exklusion.

     

  • Manchmal fressen sich Ratten durch Wände

    Es war Nachmittag und der Studieninformationstag war in vollem Gange, als das Mädchen vor mir stand. Ihre Augen zeigten eine Mischung aus Nervosität und Sorge und ihre Stimme zitterte leicht, als sie fragte: „Kann man auch ohne deutsche Staatsbürgerschaft Jura studieren?“ Wenige Minuten zuvor hatte ich genau dieselbe Frage beantwortet – gestellt von ihren Freundinnen; sie hatten sie offenbar in ihrem Namen geschickt. Obwohl ich ihnen deutlich erklärt hatte, dass die Staatsbürgerschaft kein Hindernis darstellt, stand sie nun doch hier. Vielleicht hatte sie Zweifel an den Aussagen ihrer Freundinnen, vielleicht brauchte sie die Bestätigung aus erster Hand. In jedem Fall rührte mich ihr Mut, mich direkt anzusprechen und ich fühlte mich direkt in meine eigene Vergangenheit zurückversetzt.

    Auch ich hatte einst diese Angst – dass mir mein Wunsch, Jura zu studieren, durch bürokratische Hürden verwehrt bleiben könnte. Damals hatte ich weder die deutsche Staatsbürgerschaft noch einen unbefristeten Aufenthaltstitel und die Unsicherheit war fast erdrückend. Doch ich wusste, was ich wollte und suchte mir einen Weg. Dieser Weg war manchmal umständlicher, manchmal mit mehr Aufwand verbunden, aber er war bestreitbar. Und so lächelte ich das Mädchen an, sagte ihr, dass sie sich keine Sorgen machen müsse, und bemerkte, wie sich die Spannung in ihren Schultern löste.

    Erleichtert stellte sie mir noch ein paar weitere Fragen, insbesondere ob man als Ausländer*in Probleme mit der Fachsprache hätte. Ihre Sorge war nachvollziehbar, und ich bemühte mich, sie auch hier zu beruhigen. „Juristendeutsch“, erklärte ich, „ist kein normales Deutsch. Es ist eine eigene Sprache, die jeder lernen muss – unabhängig davon, ob Deutsch die Muttersprache ist oder nicht.“

    Ich erzählte ihr, dass ich selbst in meinem ersten Semester oft Fachbegriffe nachschlagen und mir neue Ausdrücke wie Vokabeln aneignen musste. „Den einen fällt es leichter, den anderen schwerer – aber es ist machbar. Ich kenne Leute, die nur kurz in Deutschland gelebt haben, bevor sie mit dem Studium begonnen haben. Auch sie meistern den Alltag wie alle anderen.“ Das Mädchen nickte und ich konnte beobachten, wie die Erleichterung in ihrem Gesicht immer deutlicher wurde, bis sie sich schließlich mit einem dankbaren Lächeln in den Feierabend verabschiedete.

    Dieser Moment erinnerte mich daran, wie wichtig es ist, jungen Menschen zu zeigen, dass ihre Träume erreichbar sind – unabhängig von Pass oder Herkunft. Manchmal braucht es nur ein bisschen Mut und eine*n Ansprechpartner*in, der*die einem die Ängste nimmt. „Manchmal fressen sich Ratten durch Wände“. Dieses Zitat schoss mir immer wieder durch den Kopf, während ich mit dem Mädchen sprach. Es beschreibt auf metaphorische Weise, wie es sich anfühlt, Erfolg zu haben, wenn alles gegen einen zu sprechen scheint. Sich durch Wände zu fressen – das bedeutet, mit Mut und Entschlossenheit jedes Hindernis zu überwinden, auch wenn man sich fremd, fehl am Platz oder unverstanden fühlt.

    Ich habe schon viele Gespräche mit jungen Menschen geführt, die glaubten, dass ihnen aufgrund ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft der Zugang zu höherer Bildung verwehrt bliebe. Nicht aus Mangel an Fähigkeiten oder aus Faulheit, sondern aus Angst. Angst vor Bürokratie, vor Ablehnung oder vor dem Scheitern. Und jedes Mal habe ich ihnen dasselbe mit auf den Weg gegeben: Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Lass dich von den Umständen nicht entmutigen.

    Ich selbst bin ein Beispiel dafür, dass es funktionieren kann, selbst wenn der Weg steinig ist. Doch meine Geschichte wäre keine echte Erfolgsgeschichte, wenn ich nicht versuchen würde, so viele Menschen wie möglich daran teilhaben zu lassen. Jede*r, der*die den Mut fasst, sich durch eine Wand zu kämpfen, ebnet den Weg für die, die danach kommen. Und für genau diese Momente – wenn ein junges Mädchen mit einem erleichterten Lächeln in den Feierabend geht – lohnt es sich, weiterzumachen.

     

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  • Das Integrationsparadoxon

    Es war einer dieser Tage, an denen alles schiefzugehen schien. Schon seit den frühen Morgenstunden kam es mir so vor, als wäre die Welt gegen uns. Mein Partner und ich stießen auf Menschen, die uns das Leben schwer machten, und jede Begegnung fühlte sich an wie ein kleiner Kampf. Am Abend waren wir erschöpft, ausgelaugt von diesem endlosen Strom aus Frustrationen. Um den Tag wenigstens halbwegs versöhnlich ausklingen zu lassen, beschlossen wir, in die Stadt zu fahren. Wir nahmen den Bus und ließen uns von der Bewegung mitziehen.

    Während wir fuhren, redeten wir – über Gott und die Welt, wie wir es oft tun, wenn wir Abstand suchen. Unser Gespräch floss dahin, bis ein älteres Ehepaar uns gegenüber Platz nahm. Ich dachte mir zunächst nichts dabei und sprach weiter mit meinem Partner. Diesmal ging es um die Unterschiede zwischen einem Jurastudium und der Polizeiausbildung – ein Thema, das uns immer wieder beschäftigte. Als wir an unserer Haltestelle ankamen, stiegen wir aus, und alles fühlte sich so normal an wie immer. Doch plötzlich blieb mein Partner stehen und sagte: „Hast du gemerkt, wie sich unsere Wortwahl verändert hat, als die beiden sich hingesetzt haben? Wir reden normalerweise nicht so miteinander.“

    Seine Worte trafen mich unerwartet. Zunächst schüttelte ich den Kopf. Nein, ich hatte nichts bemerkt. Doch als ich darüber nachdachte, wurde mir klar: Er hatte recht. Irgendetwas war anders gewesen, als das Ehepaar da war. „Ich habe jedenfalls nichts bewusst verändert“, sagte ich zögernd. „Das sind Automatismen“, antwortete er nachdenklich. „Wir sind junge Ausländer, die in der Gesellschaft nach ihrem Platz suchen. Wir merken gar nicht mehr, wie wir uns anpassen, sobald wir uns beobachtet fühlen.“ Diese Worte hallten in mir nach. Sie deckten eine Wahrheit auf, die ich bisher nicht wirklich sehen wollte. Wie oft hatte ich mich selbst schon verstellt, ohne es zu merken? Wie oft hatte ich versucht, zu gefallen, um dazuzugehören, in einer Gesellschaft, die mich oft nur zögerlich akzeptierte? „Hm“, war alles, was ich herausbrachte. Doch in meinem Inneren machte sich ein bitterer Gedanke breit: Ich verändere mich aus Angst vor Ablehnung. Ich dachte an den Morgen zurück, als ich mich – wieder einmal – verstellt hatte, um bei einer deutschen Person einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ich erinnerte mich an den subtilen Blick, der mich in eine Schublade steckte, und an mein eigenes Verhalten, das sich dieser Schublade sofort angepasst hatte. Ich hatte mitgespielt, weil ich es so gelernt hatte.

    Später am Abend, als ich endlich zur Ruhe kommen wollte, stieß ich auf einen Artikel. Ein Psychiater, der mit Geflüchteten arbeitete, sagte darin etwas, das mich tief traf: „Jeder kann sich vorstellen, wie es einem geht, wenn man nirgendwo willkommen ist und ständig als Sündenbock herhalten muss. Die Ablehnung führt zu Verunsicherung. Die Verunsicherung führt zu mehr Ängsten. Und Ängste verstärken psychische Probleme.“ Ich las diese Worte, als wären sie für mich geschrieben. Sie brachten auf den Punkt, was ich seit Jahren fühlte, aber nie so klar benennen konnte. Doch an diesem Abend war ich zu müde, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Das Integrationsparadoxon – die ständige Suche nach Akzeptanz in einem Umfeld, das einem immer ein Stück fremd bleiben wird – das musste warten.

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  • Ein dystopisches Deutschland im Jahr 2040

    Im Jahr 2040 ist Deutschland ein Land, das in den Schatten seiner einstigen Ideale gefangen ist. Der Herbst hat Einzug gehalten, doch die bunten Farben der Blätter werden von einer düsteren Melancholie überlagert. Es ist ein Bild, das das Land widerspiegelt: einst lebendig und vielfältig, nun isoliert und verachtet.

    Wie konnte es so weit kommen? Der schleichende Aufstieg rechtsradikaler Parteien wurde lange übersehen, ihre Botschaften fanden in der breiten Bevölkerung Gehör, während die Zivilgesellschaft die alarmierenden Zeichen ignorierte. 

    Zuerst waren es nur kleine Wellen, ein Raunen im Hintergrund der politischen Debatten, das von vielen als harmlos abgetan wurde. Doch mit der Zeit wuchsen diese Wellen zu einem unaufhaltsamen Tsunami. Demokratische Werte, die jahrzehntelang das Fundament der Gesellschaft gebildet hatten, begannen zu bröckeln. Es war ein schleichender Prozess, der durch Angst und Unsicherheit genährt wurde. Der große Albtraum wurde zur Realität, als die rechtsradikalen Kräfte unaufhaltbar wurden und ihre menschenverachtenden Pläne in die Tat umsetzten.

    Die Straßen, die früher von der Vielfalt ihrer Bewohner*innen geprägt waren, wurden nun von einer erdrückenden Stille beherrscht. Die einst pulsierende Demokratie, die das Land auszeichnete, existierte nicht mehr. Stattdessen erstreckte sich ein Schatten über die Köpfe der Menschen, der ihnen den Atem raubte und das Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit zerstörte.

    Mitten in dieser dystopischen Realität steht eine Frau, die in ihren Gedanken die Geschehnisse der vergangenen Jahre reflektiert. Sie erinnert sich an eine Zeit, in der sie als junge Journalistin über die Gefahren eines erstarkenden Nationalismus geschrieben hatte. Damals waren ihre Warnungen noch hypothetisch, ein Versuch, die Gesellschaft zum Nachdenken anzuregen. In ehrlichen Gesprächen mit Freunden hatte sie scherzhaft angedeutet, dass sie sich eines Tages eine Fluchtheimat suchen könnte, falls Deutschland den Bach runterginge. Diese scherzhaften Gedanken, die sie damals in ihren Artikeln thematisierte, sind heute bitterer Ernst.

    Jetzt steht sie hier, umgeben von den Trümmern ihrer einst geliebten Heimat. Die Menschen um sie herum sind gefangen in der Resignation, die Augen voller Trauer und Enttäuschung. Es ist ein Land, das sich von seinen Idealen abgewandt hat und in dem die Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden zu einem unerreichbaren Traum geworden ist. Die Frage, die sie sich stellt, ist nicht nur eine persönliche, sondern ein kollektives Dilemma: „Bleiben oder gehen?“

    In stillen Nächten, wenn die Welt um sie herum zur Ruhe kommt, wird der Gedanke an eine Ausreise immer drängender. Wo könnte sie hingehen, wenn Deutschland nicht mehr ihre Heimat ist? Die Suche nach einer neuen Heimat wird zu einer existenziellen Frage. Kann es einen Ort geben, der die Sehnsucht nach Sicherheit stillt? Und wenn ja, ist es nicht zu spät, um zu gehen? Der innere Kampf zwischen dem Bedürfnis, zu bleiben und zu kämpfen, und dem Drang, sich zu retten, wird zu einer ständigen Quelle der Unruhe.

    Trost schöpft die Frau daraus, dass sie weiß, dass sie nicht allein ist. Viele Menschen um sie herum kämpfen mit denselben Fragen, dem gleichen Schmerz und der gleichen Hoffnung auf Veränderung. Doch in einer Welt, die sich so drastisch gewandelt hat, bleibt die entscheidende Frage: Wie kann man eine Zukunft aufbauen, wenn die Gegenwart so düster erscheint? Und vor allem: Wo wird die Fluchtheimat sein, die ihr die Freiheit und den Frieden zurückbringen kann?

    Deutschland, einst ein Land, zu dem die Welt aufschaute. Ein Land, das bewiesen hat, dass Einigkeit, Recht und Freiheit obsiegen, ist heute ein Schatten seiner selbst. Die Höhen, die es erreicht hatte, sind längst vergessen; stattdessen ist es in die Untiefen des Hasses und der Intoleranz abgestürzt. Was bleibt, sind verstummte Stimmen, die all die Jahre zuvor so laut und dringlich gerufen hatten: „Deutschland, wach auf; dir läuft die Zeit davon.“

    Die Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit verfliegen wie der Herbstwind, während die Realität gnadenlos offenbart, was aus der Hoffnung und dem Idealismus geworden ist. Inmitten dieser Dystopie fragt sich die junge Frau, ob es noch einen Weg zurück gibt, oder ob sie nun nur noch eine weitere verstummte Stimme in der Menge ist, die in den Schatten der Geschichte verloren ging.

     

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  • Goodbye, Niedersachsen, hello Nordrhein-Westfalen!

    Von der Grundschule über das Gymnasium und die Uni zurück zur Schule. Diesen Kreislauf bin ich komplett in Niedersachsen durchlaufen. Und nun wollte ich mal in die große weite Welt, beziehungsweise nach Nordrhein-Westfalen. Ganz easy, oder? Von wegen!

    Als Beamtin hat man viele Vorteile, doch Flexibilität gehört nicht dazu. Um in das deutsche Ausland zu können, bewirbt man sich für das Tauschverfahren und hofft, dass sich eine Person findet, die aus deinem Wunschbundesland in deins möchte. Dann kann getauscht werden.

    Doch kaum hatte ich mich beworben, kam die Ernüchterung: Ganz so einfach war das dann auf einmal doch nicht. Denn Bildung ist Ländersache.  Von Niedersachsen nach Nordrhein-Westfalen ist ein kleiner geografischer Sprung, doch überraschenderweise ein nicht so kleiner kultureller und bürokratischer Umbruch.

    Während ich mich an Nibis – den niedersächsischen Bildungsserver – mit seinem dem Norden entsprechend nüchternen Layout und an ein sogenanntes Schulverwaltungsblatt, welches alle Stellenanzeigen alphabetisch und geografisch sortiert aufzeigte, gewohnt hatte, musste ich mich nun LEO, VERENA, STELLA – tatsächlich heißen so die Stellenportale in NRW – widmen. Was für NRW-ler übersichtlich erscheint, ist aus der niedersächsischen Sicht ein kompletter Kuddelmuddel.

    Das bedeutet 16 Bundesländer, also 16 Systeme. Im System angemeldet und auf die ersten Stellen beworben, erhielt ich einen Brief, dass ich meine niedersächsischen Zeugnisse zwecks Anerkennung in beglaubigter Kopie in Münster abgeben sollte. Warum? Weil die „ausländischen“ Dokumente eine Überprüfung und Anerkennung erfordern. Gesagt, getan. Dem Lehrkraftmangel in meinen Fächern sei Dank, konnte ich schließlich „Goodbye“ zu Niedersachsen sagen.

    Mit dem Wechsel nach Nordrhein-Westfalen betrat ich Neuland, das mich mit vielen kleinen, aber bedeutsamen Unterschieden überraschte. Nach einigen Jahren Dienst in Niedersachsen lief alles wie am Schnürchen. Ich war an die Rahmenrichtlinien gewöhnt, konnte Unterricht fast im Schlaf planen und die Feiertage fest im Blick behalten. Doch in NRW fühlte ich mich zunächst wie ein Neuling. Begriffe wie „Arbeitskreise“ statt AGs und „Elternpflegschaftsabende“ anstelle von Elternabenden machten mir klar, dass ich vieles neu lernen musste.

    Eine weitere Überraschung bot der Kalender. Vor Kurzem redeten Kolleg*innen über ihre Pläne für die freien Tage im März. „Freie Tage im März?“, fragte ich überrascht. Das Leuchten meiner Augen erhellte den gesamten Raum, als ich erfuhr, dass Ende Februar bis Fastnachtsdienstag die Schulen in Nordrhein-Westfalen geschlossen bleiben. Unerwartete freie Tage! Eine schöne Überraschung!

    In diesem katholischen Bundesland gibt es keinen freien Reformationstag, dafür aber Fronleichnam. Ein freier Tag mitten im Sommer. „Wir feiern hier alles“, wurde mir von einer Kollegin angekündigt. Die Feiertage prägen den Schulalltag viel mehr, als ich zuvor erwartet hatte. Das erfordert sicherlich einiges an Planung. Gott sei Dank habe ich aber noch einige Monate, um mir Gedanken über ein Kostüm für Rosenmontag machen.

    Die beeindruckende bergische Landschaft war einer der Aspekte, die mich hergelockt haben. Nun, hier angekommen, merkte ich schnell, dass das nordische Flachland mich sehr verwöhnt hatte. In Hannover konnte ich stundenlang durch die Eilenriede spazieren, doch hier im Bergischen Land merkte ich schnell, dass die ständigen Steigungen mich schnell erschöpften. Selbst die Schule scheint gefühlt zu 80 Prozent aus Treppenstufen zu bestehen!

    Ein einfacher Jobwechsel kann bereits eine Herausforderung darstellen: Da jeder Betrieb andere interne Strukturen und Prozesse hat. Der Lehrberuf ist geprägt von sozialen Beziehungen und Interaktionen. In meinem Falle kommen zum Schulwechsel, Ortswechsel, damit zusammenhängende räumliche Trennung vom Freundeskreis und einige andere private Veränderungen. All diese neuen Eindrücke und Reize, so schön sie auch sind, sind sehr fordernd.

    Nach vier Wochen kann ich sagen, der Wechsel war komplizierter als erwartet, aber der Schritt hat sich gelohnt. Langsam komme ich an und ich freue mich auf alles, was mich noch erwartet. Eines ist gewiss: Ob Niedersachsen oder NRW – der Schulalltag bleibt immer voller Überraschungen und Herausforderungen, und es wird nicht langweilig!

     

  • Lektion 1: Frage niemals Schüler*innen nach der Uhrzeit

    Im Studium und im Vorbereitungsdienst lernt man als angehende Lehrkraft, den Unterricht minutiös zu planen und Überleitungen gezielt einzusetzen. Man übt, wie Fragen und Aufforderungen sinnvoll und motivierend formuliert werden. Eine der Kernkompetenzen jeder Lehrkraft ist die regelmäßige Reflexion: Was kann ich verbessern? Wie kann ich die Aufgaben klarer formulieren? Welche Methoden und Materialien haben sich bewährt und welche nicht?

    Manchmal sitzt man lange und tüftelt daran, was die Ursache des Nichterreichens eines Unterrichtsziels oder einer Störung ist. Und manchmal wird es schnell deutlich und die Lösung liegt plötzlich vor einem.

    So erging es mir in der Praxisphase meines Berufs. Nach Jahren des Studiums war ich nun einige Wochen im Referendariat. Angehende Lehrkräfte genießen eine Art Sonderstatus. Die Schüler*innen sehen sie fast als Leidensgenoss*in und bemühen sich in den relevanten Stunden mehr, auch wenn sie einem das Leben sonst durchaus herausfordernder gestalten. Auf dieses Wohlwollen darf man sich jedoch nicht ausruhen, denn am Ende des Tages trägt man die Rolle der Lehrkraft und damit die Verantwortung für alle Gruppenmitglieder.

    Als Perfektionistin war der Start in den Beruf für mich kein Zuckerschlecken. Detailverliebt plante ich jede Stunde Minute für Minute und fast jedes Wort, das ich sagen wollte. Eines Tages vergaß ich meine Uhr und fragte die Schüler*innen nach der Uhrzeit. Als sie mir die Zeit nannten, stellte ich erschrocken fest, dass wir nur noch fünf Minuten hatten. Als Berufsanfängerin war eine angemessene Zeiteinteilung für Aufgaben oft eine Herausforderung für mich. Ich musste also feststellen, dass meine Erwartungen zu hoch waren und ich den Rest des geplanten Unterrichtsstoffes auf die folgende Stunde verschieben musste.

    „Typischer Anfängerfehler!“

    Ich beendete die Unterrichtsstunde, ließ die Arbeitsplätze aufräumen und schickte die Schüler*innen gerade rechtzeitig in die Pause. Ich schloss die Tür ab und begab mich auf den Weg zum Lehrerzimmer. Die Schule war groß, sodass ich dafür eine längere Strecke zurücklegen musste. Unterwegs fiel mir die ungewöhnliche Stille auf und ich fragte mich, wie dies während einer Pause in einer so großen Schule zustande kam. Im Lehrerzimmer angekommen, sah ich die Wanduhr und mein Herz blieb stehen.

    Mir wurde bewusst, dass die Unterrichtszeit noch lange nicht vorbei war und meine Zeiteinteilung nicht unrealistisch gewesen war. Die Schüler*innen hatten mir eine falsche Zeit genannt und sich damit eine fast 30-minütige Verlängerung ihrer Pause erschlichen.

    Ich erzählte meinen Kolleg*innen von dem Vorfall und sie entgegneten laut lachend: „Typischer Anfängerfehler!“ Auch wenn mir das damals etwas peinlich war, fand ich es lustig, wie ich das nicht habe kommen sehen.

    Dieser Vorfall lehrte mich, wie wichtig es ist, dass in der pädagogischen Praxis oft die unscheinbaren Details den größten Einfluss haben können. An diesem Tag wurde mir außerdem klar, dass es vieles gibt, was man außerhalb der Bücher im Studium lernen kann und muss.

    Meine Moral aus der Geschicht‘: Frage Schüler*innen nach der Uhrzeit nicht!

  • Wir sind nicht gleich

    In einem kleinen, kaum besuchten Café saßen sich zwei Männer gegenüber. Der eine, ein junger Geflüchteter, hielt die Tasse mit beiden Händen fest umklammert, als wollte er sich an der Wärme festhalten. Sein Gegenüber, ein schweigsamer älterer Mann mit grimmigem Gesichtsausdruck, starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.

    Der Jüngere von den beiden begann zu sprechen, seine Stimme leise, aber klar: „Wir sind nicht gleich, weil ich meinen Nachnamen falsch ausspreche, damit du ihn verstehst.“ Er sah, wie der Mann ihm gegenüber mit einer Augenbraue zuckte, blieb aber ungerührt.

    „Wir sind nicht gleich, weil meine bloße Präsenz dir Angst macht.“ Seine Augen suchten die des anderen, fanden aber keine Reaktion, nur Kälte.

    „Wir sind nicht gleich, weil du die Straßenseite wechselst, wenn du mich siehst und ich nicht.“ Er schnaubte leise, die Absurdität der Situation erdrückte ihn.

    „Wir sind nicht gleich, weil dein Akzent als charmant gilt und meiner nicht.“ Der Geflüchtete lehnte sich ein Stück nach vorne, als wollte er die Distanz überbrücken, die sie trennte.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich mich klein machen muss, damit du groß sein kannst.“ Seine Worte waren mit Bitterkeit getränkt, aber seine Stimme blieb ruhig.

    „Wir sind nicht gleich, weil dein Reisepass rot ist, während meiner dunkelblau ist und zwei schwarze Streifen hat.“ Er trank einen kleinen Schluck aus seiner Tasse, die Wärme des Tees war kaum noch spürbar.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich meine Religion verstecken muss, während du deine teilen kannst.“ Der Geflüchtete schüttelte leicht den Kopf, als ob die Worte ihm schwer auf der Seele lagen. „Weil deine religiösen Feste gefeiert werden und meine nur für Ärger sorgen.“

    „Wir sind nicht gleich, weil mein Medizinstudium hier nur ein Hauptschulabschluss ist und deines nicht.“ Ein kurzes, bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen, verschwand aber schnell wieder.

    „Wir sind nicht gleich, weil du den Job bekommst und ich nicht.“ Seine Augen wurden für einen Moment leer, dann fand er seine Entschlossenheit wieder.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich für das Image jedes Menschen, mit dem ich zu tun habe, geradestehen muss und du nicht.“ Er spürte die Last dieser Wahrheit auf seinen Schultern.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich für einen Like meinen Job verlieren kann und du nicht.“ Er legte die Hände auf den Tisch und blickte auf seine Finger, als ob er dort die Narben der Vergangenheit sehen könnte.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich bei Gewalt an die Opfer denke und du an die Täter.“ Der Geflüchtete hob den Kopf, seine Augen fixierten den Mann ihm gegenüber, als würde er eine Reaktion herausfordern.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich bei einem Anschlag hoffen muss, dass der Täter kein Geflüchteter war während du es dir wünschst.“ Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich bei jedem Anschlag ins Visier genommen werde und du nicht.“ Er fasste sich an den Hals, als ob er sich gegen die schneidende Klinge der Realität an seiner Kehle schützen wollte.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich mich von allem distanzieren muss und du von nichts.“ Er sah den anderen an, sein Blick war fest, aber müde.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich ein Terrorist wäre und du ein geistig Verwirrter.“ Er schüttelte den Kopf, als ob er nicht glauben konnte, wie tief die Kluft war.

    „Wir sind nicht gleich, weil deine Wut als Patriotismus betrachtet wird und meine als Gefährdung.“ Die Worte kamen langsam, mit Gewicht.

    „Wir sind nicht gleich, weil meine Unterkunft brennen wird und dein Einfamilienhaus nicht.“ Er schnaubte erneut, die Härte dieser Realität ließ ihn kaum noch atmen.

    „Wir sind nicht gleich, weil du die Polizei rufst und ich sie fürchte.“ Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, als die Erinnerungen zurückkehrten.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich beweisen muss, dass ich hier sein darf und du nicht.“ Der Schmerz in seiner Stimme war nun nicht mehr zu überhören.

    „Wir sind nicht gleich, weil deine Kinder in die Zukunft blicken, während meine damit kämpfen, die Vergangenheit zu vergessen.“ Er fuhr sich durch die Haare, als wollte er die Erinnerungen wegwischen.

    „Wir sind nicht gleich, weil deine Geschichte als Heldentum gefeiert wird und meine eine Last ist.“ Ein trauriges Lächeln spielte auf seinen Lippen, bevor es verschwand.

    „Wir sind nicht gleich, weil du deine Worte frei äußern kannst und ich meine sorgfältig abwägen muss.“ Seine Stimme zitterte leicht, aber er hielt den Blickkontakt.

    „Wir sind nicht gleich, weil du überall hingehörst und ich nirgends.“ Er sah dem anderen fest in die Augen, seine Worte wie ein Urteil.

    „Wir sind nicht gleich, weil du du bist und ich ich.“ Seine Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern, aber jeder Buchstabe trug das Gewicht der ganzen Welt.

    „Wir sind nicht gleich. Wir sind nicht gleich. Und wir werden es auch nie sein.“

    Eine lange Stille folgte, das Café um sie herum wurde fast gespenstisch ruhig und die Welt schien sich für einen kurzen Moment nicht mehr zu drehen.

    Der Jüngere nahm einen letzten Schluck aus seiner Tasse, setzte sie ab und blickte dem Älteren tief in die Augen. „Aber“, sagte er schließlich, „wir sind gleich, weil unsere Herzen beide dunkel und hart sind – meins, weil ich gehasst werde, und deins, weil du hasst.“

    Die Worte hingen in der Luft, schwer und unausweichlich. Der Mann am anderen Ende des Tisches blieb still, sein Gesicht versteinert. Keine Antwort kam, nur die unendlich tiefe Stille, die ihre unausgesprochene Wahrheit bestätigte und ein Blick, in dem alles gesagt war.

     

     

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