Autor: Sarah Zaheer

  • Recyclehero: Alessandro, Nadine und die Helden des Alltags

    kohero: In eurer Firma Recyclehero werden Geflüchtete und schwer vermittelbare Arbeitslose beschäftigt. War dieser soziale Schwerpunkt von vornherein gewollt oder hat sich das ergeben?

    Allessandro: Am Anfang hatten wir die Vorstellung, mit der Abholung und Entsorgung von Altglas und Altpapier, Obdachlosen eine Job-Chance zu geben und ihnen dadurch den Zutritt in ein geregeltes Leben zu ermöglichen. Das war die ursprüngliche Idee, als wir das Konzept vor zwei Jahren spontan bei der Social Innovation Challenge vorgestellt haben. Ein paar Coaches brachten uns bei dieser Gelegenheit auf die Idee, auch andere Gruppen mit einzubeziehen. Wir sollten unser Jobangebot breiter streuen.

    Wir dachten uns, warum nicht, denn unser Ziel war, alle Menschen für diese Idee zu gewinnen, die keinen Zugriff auf den regulären Arbeitsmarkt haben. Die Voraussetzungen sind eher einfach, kein Mensch braucht einen Führerschein und einfache Deutschkenntnisse reichen durchaus. Ein gering qualifizierter Mensch kann diesen Job auch machen. Und damit war der erste Schritt getan, auch Geflüchteten und Langzeitarbeitslosen eine Chance zu geben.

    kohero: Wie erfolgte der erste Kontakt mit Geflüchteten?

    Alessandro: Der erste Kontakt erfolgte während des “Forum Flüchtlingshilfe” im Kampnagel im August 2018. Wir haben uns dort mit unserem Lastenrad hingestellt und die Menschen schlicht und einfach gefragt, ob sie nicht Lust hätten, an unserem Projekt teilzunehmen. Letztendlich waren es fünf bis sieben Menschen, unter anderem aus Eritrea und Nigeria, die eine Runde mit unserem E-Lastenrad Test gefahren sind. Die meisten konnten zu diesem Zeitpunkt kein richtiges Deutsch und wir haben uns auf Englisch und mit Händen und Füßen verständigt.

    Sie fanden die Idee gut, mussten aber erst einmal überprüfen, ob diese neue Tätigkeit auch zeitlich passt, denn Sprachunterricht steht bei den meisten auf dem Programm. Einer hat sich bei uns per Mail gemeldet und wurde von uns für ein Gespräch eingeladen. Wir haben uns ein paar Tage später in einem Café verabredet, um uns in lockerer Atmosphäre besser kennenlernen zu können.

    Nadine: Wir wollten keinen Lebenslauf oder andere Papiere sehen, unser Ziel war es, die Barrieren zu brechen, die am Anfang oft herrschen. Uns war wichtiger zu erfahren: Wer ist dieser Mensch? Wo kommt er her? Wie ist seine Geschichte? Wir alle wissen, dass viele Geflüchtete drei Jahre oder länger unterwegs waren. Zum Teil haben diese Menschen ihre Familien schon lange nicht mehr gesehen. Leider kam er nicht zum Termin und hat sich auch nie wieder gemeldet.

    kohero: Wie waren die Erfahrungen im Alltag als die ersten Geflüchteten zu euch kamen?

    Alessandro: Die Frage ist schwer zu beantworten, da wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genügend Erfahrungen sammeln konnten. Ich hatte einen zweiten Kontakt zu einem jungen Mann, der sich gerade in einem Restaurant bewarb. Ich hatte dort einen Abholauftrag für Altglas zu erledigen.

    Wir kamen ins Gespräch und ich habe ihn gefragt, ob er sich auch vorstellen könnte für uns zu arbeiten, falls das mit dem Job im Restaurant nicht klappen sollte. Ihm gefiel die Idee, er meldete sich anschließend bei mir, und wir haben ihn für ein Interview eingeladen. Er kam leider nicht zum verabredeten Termin, sagte aber immerhin, dass er keine Zeit hatte. Und so war es auch beim zweiten Mal, aber er fragte, ob er am nächsten Tag kommen kann. Okay sagten wir, jeder hat drei Chancen verdient.

    Diesmal klappte unser Treffen, er war gut vorbereitet und hatte sogar Papiere dabei. Zwei Tage später sollte er bei uns Probearbeiten und ich wartete auf ihn. Es verging eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, ich wartete vergeblich. Er hatte verschlafen.

    Nach diesen ersten Erfahrungen haben wir den Plan, unser Sozialunternehmen sofort mit Geflüchteten aufzubauen, erst einmal aufgegeben und einen Mitarbeiter gesucht, mit dem wir unsere ersten Kunden zuverlässig bedienen konnten. Wir mussten unsere Idee, unser Geschäft erst einmal vernünftig auf die Straße bringen, es für die Allgemeinheit sichtbar machen. Jetzt sind wir besser aufgestellt und richten den Fokus wieder auf die Anstellung von Geflüchteten.

    Nadine: Wir erleben auch großartige Begegnungen, zum Beispiel kürzlich mit einem geflüchteten Iraner. Er ist ein sehr offener Mensch und ich war neugierig auf seine Geschichte. Auch wenn er zur Zeit nur englisch spricht, habe ich versucht, ihm wichtige Infos zu vermitteln, damit er sich in Deutschland beruflich und sozial gut zurecht findet. Und darum geht es auch, unsere „Heroes“ betrachten wir nicht nur als Angestellte, sondern wir wollen wenn möglich gerne eine freundschaftliche Beziehung aufbauen.

    kohero: Wie habt ihr eure Firma finanziert?

    Alessandro: Ein Crowdfunding steht im Rahmen des deutschen Integrationspreises im Mai an. Am Anfang haben wir die Kosten so niedrig wie nur möglich gehalten, sei es bei der Beschaffung von Transportkisten oder dem Erwerb eines Lastenrads. Die Kisten kauften wir über Ebay, das Rad bekamen wir über ein Projekt geliehen. Jetzt haben wir einen Sponsor für die Kisten und ein Rad wird bestellt. Das ist die größte Investition, die wir tätigen müssen, um sie später über die Einnahmen der Crowdfunding-Kampagne zu refinanzieren.

    kohero: Nadine, hast du an diese Idee sofort geglaubt? Hattet ihr überhaupt einen Plan B?

    Nadine: Ich war vor Anfang an dabei und konnte mir die Idee sofort vorstellen und in den letzten zwei Jahren haben wir das Projekt weiterentwickelt. Aber noch haben wir unsere Jobs als Back-up, vier Tage die Woche. Ich werde meinen Job jetzt an der Nagel hängen, um meine Kräfte in unserer Firma zu stecken. Wir wissen noch nicht, wann wir beide uns nur der Firma werden widmen können und daher fahren wir zur Zeit zweigleisig.

    kohero: Von der Firma alleine könnt ihr noch nicht leben. Warum tut ihr das überhaupt?

    Alessandro: Wir hoffen natürlich, dass in Zukunft nicht nur eine Existenz für die Heroes gesichert wird, sondern, dass wir auch unser Leben davon bestreiten können. Aber das Konzept ist nicht dafür ausgelegt, viel Geld zu verdienen. Das Ziel ist eine sich selbst tragende, gemeinnützige UG und keine rein profitorientierte AG aufzubauen. Wir haben beide früher gut bezahlte Jobs gehabt aber auch festgestellt, dass diese goldenen Käfige nicht alles im Leben sein können. Wir möchten auch einen sozialen Impact mitgestalten, eine nachhaltige soziale und gesellschaftliche Wirkung prägen. Diese Idee hat eine eigene Magie, die uns erfüllt.

    Ihr könnt dieses Projekt auf Startnext unterstützen.

  • Katastrophenhilfe braucht Humanitäre Logistik

    So war er beispielsweise in brasilianischen Flüchtlingslagern in Teresópolis und Petrópolis im Einsatz. 2011 wurden dort nach heftigen Unwettern ganze Stadtviertel durch gewaltige Lawinen aus Schlamm und Gesteinsbrocken weggeschwemmt. Tausende Menschen wurden dadurch obdachlos. Douglas Sant’ Anna da Cunha ist u. a. Berater des brasilianischen und mexikanischen Roten Kreuzes sowie Autor eines Buches über Humanitäre Logistik*.

     

    Die erste Aufgabe des Logistikers eines Flüchtlingslager besteht darin, die lebenswichtigen Ressourcen wie Lebensmittel, Wasser, Hygiene- und Reinigungssets, Kleidung und Schuhe für die dort lebenden Menschen zu koordinieren. Der Bestand an diesen Gütern wird strukturiert oder in machen Fällen auch umstrukturiert. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Geflüchteten und Kranken in den Flüchtlingslagern oder Krankenhäusern stets mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden können.

    Der erste Schritt bei der Planung und Entscheidungsfindung eines Logistikfachmanns in der Katastrophenhilfe besteht darin, die Zielgruppen quantitativ zu bewerten. Es ist wichtig, so viele Informationen wie möglich über die geflüchteten Menschen zu generieren. Nur so ist es möglich, alle zufriedenstellend unterzubringen, zu verpflegen und zu behandeln. Dabei müssen die Logistiker immer berücksichtigen, dass die Zahlen bei der Ankunft von neuen Opfern abweichen können.

    So war beispielsweise das Flüchtlingslager in Domeez unweit der Stadt Dohuk im irakischen Kurdengebiet für nur rund 20.000 Menschen ausgerüstet. Tatsächlich aber lebten dort zwischen 2011 und 2014 zeitweise mehr als 35.000 syrische Flüchtlinge, die die syrische Grenze zum Irak überquert hatten, um in Domeez Zuflucht zu suchen.

    Die Strukturen im Flüchtlingslager

    Wenn der Informationsfluss aller Beteiligten funktioniert, kann die Verteilung der Hilfgüter beginnen. Wichtig bei der Planung ist es, die Art der Unterbringung der Geflüchteten zu beachten. Viele der Zeltlager sind improvisiert. Oft gibt es keine Infrastruktur und die Beschaffung von Produkten für den Dauereinsatz oder die Wartung der Anlagen lassen zu wünschen übrig. Es geht nicht nur darum, Hilfsgüter zu lagern und zu verteilen. Ziel ist es auch, Verbesserungen der Wohnstruktur zu treffen und grundlegende Dienstleistungen für die Geflüchteten zu organisieren, z.B. die Kontrolle der Trinkwasserqualität.

    Wenn es keine Sanitärstruktur gibt, hat das unangenehme Folgen. Die Ableitung von Abfällen aus den Latrinen muss geregelt werden.  Nur so lassen sich Gesundheitsschäden verhindern. Normalerweise wächst ein Lager sehr schnell und unerwartet. Deshalb fehlen oft für lange Zeit Sanitärsysteme, die die Bedürfnisse der Geflüchteten decken. Dadurch entsteht ein hohes Krankheitsrisiko.

    Es ist belastend zu wissen, dass es sich bei den Geflüchteten um Menschen handelt, die einmal ein Zuhause und Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung hatten. Nun haben sie alles das verloren. Umso wichtiger ist es bei der Umsetzung des logistischen Prozesses, die Ressourcen sorgfältig strukturiert zu managen. Nur so kann man den Anforderungen dieser Familien gerecht werden.

    Schließlich befinden sich die Geflüchteten in einem Ausnahmezustand. Dadurch sind sie besonders anfällig für physische und psychische Erkrankungen. Das vorrangige Ziel ist es deshalb, ihnen ein Leben in Sicherheit mit strukturierten Tagesabläufen zu ermöglichen und ihnen Hoffnung zu geben, schon in naher Zukunft ein neues Leben beginnen zu können.

    Die Ursachen der Probleme außerhalb der Lager bekämpfen

    Leider ist die Situation in den Lagern oft extrem angespannt. Meist liegen sie nur unweit von Orten, in denen es nach wie vor zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. In einigen Regionen, etwa in Flüchtlingslagern im Sudan, wurden Entführungen durch extremistische Gruppen wie der Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA) gemeldet. An anderen kam es zu Gewalttaten gegen Frauen und Kinder.

    Der logistische Prozess bei humanitären Hilfsmaßnahmen sollte sich deshalb generell nicht nur um die Gewährleistung der Menschenrechte innerhalb der Lager drehen. Wichtig ist auch die Veränderung der Verhältnisse in den Herkunftsgebieten der Geflüchteten. Es geht darum, die notwendigen Ressourcen für den Bau von Wohnungen, die Strukturierung von Dienstleistungen und die Umsetzung von Mitteln zur Stärkung der Wirtschaft in den betroffenen Regionen bereitzustellen. Erst dann können sich die Lebensumstände der Betroffenen nachhaltig verbessern.

    Schließlich fliehen die allermeisten ja nicht willentlich aus ihrer Heimat, sondern vor den Problemen, die dort herrschen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hauptfaktoren für die Migration der Menschen aus diesen Gebieten mit Natur- oder Technologie-Katastrophen wie Kriegen und Konflikten, mit Hunger, Durst und Krankheiten zu tun haben.

    Um es Geflüchteten zu ermöglichen, in ihre Heimat zurückkehren zu können und die Probleme vor Ort zu lösen, müssen alle Beteiligten gehört werden. Das gilt besonders für diejenigen, die direkt oder indirekt von den Katastrophen betroffen sind. Und zwar ohne, dass bestimmten Nationen oder Gruppen vorgeworfen wird, sie wollten durch populistische Maßnahmen polarisieren. Um Flüchtlingskrisen zu beenden, müssen Probleme an ihrem Ursprung gelöst werden. Nur zusammen werden wir stark sein, aber zusammen für den richtigen Zweck und nicht für Staaten, Armeen oder Flaggen.

  • Eine deutsch-deutsche Fluchtgeschichte

    Du fragst mich nach meiner Fluchtgeschichte. Ich werde versuchen, dir die vielen Puzzleteile in meinem Kopf zu erzählen. Ob eine Geschichte daraus wird? Probieren wir es mal.

    Ich bin 1967 geboren und 1973 eingeschult worden. Das erste politische Ereignis, an das ich mich erinnern kann, war eine Spielzeug-Sammelaktion für chilenische Kinder, als in Chile die Militärdiktatur die Macht ergriffen hat. Und überall hing das Bild von Luis Corvalan1. Daran erinnere ich mich noch ziemlich gut.

    Ich war mit vollem Herzen dabei. Viel später habe ich erfahren, wie Luis Corvalan in der DDR und der UdSSR bespitzelt worden war; er hat wahrscheinlich keinen einzigen Schritt alleine machen können. Auch wenn sein Leben gerettet war, war das sicherlich nicht, wie er sich den Sozialismus vorgestellt hatte.

    Die politische Führungsriege in der DDR hatte so große Angst, dass Kommunist*innen und andere Linke, die den Klassenkampf tatsächlich noch gelebt haben, ihre eigenen Ideen von einer neuen Gesellschaft in diese piefige DDR tragen könnten. Sie hätten womöglich noch die Leute dazu gebracht, ihre Gesellschaft kritisch zu hinterfragen und über Veränderungen nachzudenken.

    Diese geistige Enge

    In meiner Kindheit und Jugend war die DDR total versteinert. Das war typisch für diese Zeit: Alles war komplett erstarrt, alle Denk- und Handlungsmuster waren völlig unbeweglich. Je älter ich wurde, desto stärker und unangenehmer habe ich diese Einengung wahrgenommen. Ich war eigentlich gut in der Schule und bin gerne hingegangen. Es fiel mir leicht. Aber mit zunehmendem Alter bin ich immer mehr angeeckt. Denn je mehr ich selbst nachdachte, je vielschichtiger meine Wahrnehmung von der Welt wurde, desto schwerer fiel es mir, mir die Floskeln einzuprägen, die man von uns hören wollte.

    Einmal habe ich in der Schule gefragt, warum sich die Menschen nicht wie unsere historischen Vorbilder gegen die Sachen wehren würden, die sie ungerecht finden. Zum Beispiel mit Demonstrationen oder Streiks. Die Antwort der Lehrerin darauf klang misstrauisch und unhinterfragbar:

    Durch die sozialistische Revolution seien die Klassengegensätze ja abgeschafft worden. In einer solchen Gesellschaft seien also erstens gar keine Demonstrationen mehr nötig, und zweitens seien sie rückschrittlich und konterrevolutionär, denn sie würden dem vorwärts strebenden Sozialismus schaden. Sie seien sogar extrem gefährlich, denn sie spielten dem Klassenfeind in die Hände. Diese geistige Enge war es letztlich, die mich dazu gebracht hat, aus diesem Land zu fliehen.

    Wie war es zu dieser starren Gesellschaft gekommen?

    Auch die konkreten Bedrohungen, die sich hinter dieser Geisteshaltung verbargen, habe ich zunehmend wahrgenommen: Schulverweise, Rügen vor dem Fahnenappell, in der Vergangenheit Armee-Einmärsche, verschwundene Menschen… Und ich wollte wissen: Wie war es zu dieser starren Gesellschaft gekommen?

    Ich war so etwa 17, als in mein Bewusstsein gedrungen ist, dass es wirklich einen Hitler-Stalin-Pakt gegeben hatte, dass es Lager gegeben hatte in der Sowjetunion, die Gulags. Dass es unzählige Deportationen und Hinrichtungen in der Zeit der sogenannten Säuberungen gegeben hatte.

    Lager hatte ich bis dahin nur als faschistische KZs gekannt. Ich war vollkommen erschüttert. Später habe ich einigen meiner engsten Freunde unter dem Siegel der Verschwiegenheit von meinen Erkenntnissen berichtet. Aber da ging es ihnen wie mir vorher: Sie wollten und konnten es mir nicht glauben. Die offizielle Geschichtsschreibung, alles, was wir in der Schule gelernt haben und was in der Zeitung stand, war einfach so komplett anders.

    Verbotene Bücher und kritische Fragen

    In meiner Studienzeit habe ich dann ein paar verbotene Bücher in die Hand bekommen, die sich damit beschäftigten: Ich glaube, es waren Solschenizyn, Orwell, Stefan Heym – man hatte oft nur 24 Stunden Zeit, dann mussten sie weitergegeben werden. Auch aus dem Radio habe ich Informationen bezogen.

    Meine Eltern haben für mich eine große Rolle gespielt. Sie haben mir beigebracht, alles grundsätzlich kritisch zu hinterfragen. Vor allem mein Vater, der als philosophisch interessierter Naturwissenschaftler sehr großen Wert darauf gelegt hat, ist mir bis heute einer der wichtigsten und wertvollsten Diskussionspartner über politische Themen. Solche Diskussionen fanden in meiner Jugend natürlich immer mit dem Kommentar statt, ich solle das bloß nicht weiter erzählen.

    Leben auf gepackten Koffern

    Westkontakte waren heikel. Mein Vater hatte einen Bruder, der im Westen lebte, und das war immer wie ein Makel in seiner Biografie. Mehrmals hatte man ihn dazu gedrängt, den Kontakt zu diesem Bruder abzubrechen. Mit Andeutungen, dann könne er in der Hierarchie seines Betriebes weiter nach oben steigen. Das hat er aber nie gemacht.

    So wurde es von Jahr zu Jahr ungemütlicher für mich. Es fühlte sich so an, als würde die Schlinge um den Hals immer ein bisschen enger, je bewegter ich wurde. Ein Freund hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Er verlor sofort das Recht, an der Hochschule zu arbeiten. So wurde er, wie so viele Dissident*innen in der DDR, Heizer.

    Der Rest war Warten auf den Bescheid. Das konnte ein Jahre lang dauern oder viele, viele Jahre. Und wenn du den Bescheid bekommen hast, musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Also lebten die Leute mit einem Ausreiseantrag auf gepackten Koffern, wörtlich wie auch im übertragenen Sinne. Das hat es ihnen fast unmöglich gemacht, Beziehungen aufrecht zu halten.

  • Musiktheaterprojekt – Verführung aus dem Serail

    Dokumentarisches Musiktheaterprojekt

    Seit ihrer Uraufführung im Jahr 1782 ist Mozarts Oper eines seiner erfolgreichsten Bühnenwerke – im deutschsprachigen Raum, rund um den Globus und vor allem in der Türkei, wo Mozart sein schillerndes Singspiel über Verführung, Treue und Liebe platzierte.

    Bei diesem Bremer Musiktheaterprojekt zu Mozart nehmen Personen aus Deutschland, Australien, USA, Brasilien, Korea und Syrien teil –  und zwar Profis, Opernsänger, Musiker und andere Menschen. Am 23. Mai gibt es zum Abschluss im Theater Bremen die Uraufführung.

    Student, Sänger und Schauspieler

    Einer der Sänger in diesem dokumentarischen Musiktheaterprojekt ist Wissam Alkhalil.  Mit ihm habe ich gesprochen. Wissam ist 24 Jahre alt, kommt aus Damaskus in Syrien, lebt seit fünf Jahren in Hamburg und studiert Bauingenieurwesen an der TU Hamburg. Zugleich ist er aber auch Schauspieler und Sänger. Als er neu in Deutschland war, lernte er den Regisseur eines Theaterstücks kennen und durch diesen Kontakt fing er an, im Theater an Opernaufführungen mit ihm zu arbeiten. Er genießt diese Kunst und hatte bisher vier Theateraufführungen in vier verschiedenen Bundesländern wie Berlin, Frankfurt, Hamburg und jetzt Bremen.

    Wissam erklärt, dass Theateraufführungen und Gesang für ihn eine negative Seite haben, weil er seine Kurse an der Universität verpasst.  Aber er schafft es, sein Studium und seine Theaterarbeit miteinander zu vereinbaren.

    Weitere Infos:

  • Erinnerungen und Betrachtungen

    In der Nacht ruht der Lärm und wachen die Erinnerungen auf. In der Nacht beginnt der Kampf zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, der mörderischen Vergangenheit und der ungewissen Zukunft.

    Ich erinnere mich!

    Ich erinnere mich, dass ich unfähig war, etwas zu tun, während ich tief im Chaos meiner Gefühle steckte. Das war an dem Tag, an dem mein Onkel verschwand, mein Onkel, die Hälfte meines Herzens, mit dem ich zehn Jahre meines Lebens verbracht habe, in denen er ein Vaterersatz für mich war. Für meinen Vater, der seine Vaterrolle und seine Pflicht nicht erfüllen wollte.

    Ich erinnere mich an meinen Cousin, der nicht mehr mit bei mir ist. Mein Cousin war mein Freund, Verwandter und meine Stütze, vor allem nachdem mein Onkel im Gefängnis verschwand, war mein Cousin mein ein und alles. Ich weiß nicht, was mein Onkel sich hat zuschulden kommen lassen, dass er ins Gefängnis gesteckt wurde. Ich glaube auch nicht, dass er das Gefängnis verdient, denn er war der Liebende und Feinsinnige.

    Ich betrachte die Augen meiner Mutter jeden Tag. Sie trägt eine andere und besondere Geschichte in sich. Sie ähnelt in ihrer Kraft der Erhabenheit der Berge und sie steht fest, ebenfalls wie ein Berg. Sie hat mich aufgezogen, damit ich stark bin und das Leben mit Durchhaltevermögen meistere, auch wenn ich allein bin.

    Gestalten ohne Gefühle

    Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Menschen um mich herum, nichts anderes sind als Gestalten ohne Gefühle. Ich werde vom Chaos der Gefühle und dem Durcheinander der Gedanken beherrscht. Ich merke plötzlich, dass ich dennoch unter diesen Menschen in einer Gesellschaft, die arrogant und ignorant ist, lebe.

    Ich merke, dass wir nicht frei wählen können, was wir tun und lassen sollen. Bei der Geburt haben wir weder unser Aussehen, unsere soziale Schicht, unsere Religion, noch unsere Heimat ausgewählt. Auch unsere Väter und Mütter haben wir nicht ausgewählt. All dies stand uns nicht zur Auswahl.

    Ich habe das Bedürfnis zu schreiben. Onkel, warum hat das Leiden uns ausgewählt? Ich möchte mich bei dir entschuldigen, aber wie kann ich das machen? Ich frage mich, was du jeden Tag tust, und ob es dir gut geht. Ich hoffe, es geht dir gut, die Hälfte meines Herzens.

    Wir haben viele Qualen durchlebt, du und ich. Du warst immer wieder bemüht, logische Antworten auf meine Fragen zu finden, vergeblich! Ich sagte immer, das ist unser Schicksal! Aber was bedeutet Schicksal?

    Ich verspreche dir, dass ich deinen Schmerz nie vergessen werde. Und ich werde mein ganzes Leben gegen das autoritäre Regime, das dich verhaftet hat, aufschreien. Ich verspreche dir, dass unsere Träume wie ein Vogel frei bleiben.

    Das Schöne in unseren Seelen wird nicht besiegt.

    Die Nacht geht zur Neige und ich erinnere mich, betrachte und warte auf einen schöneren Morgen.

     

     Frieden zwischen Hier und Dort

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • Der Axtbrei

    Zutaten:

    Axt (Ein Beil tut es auch)

    Wasser

    Salz

    Graupen

    Butter oder Schmalz

     

    Zubereitung:

    Die Alte brachte einen Topf. Der Soldat wusch die Axt schön sauber, legte sie in den Topf, goss Wasser hinein und stellte ihn aufs Feuer.
    Mit weit offenen Augen sah ihm die Bäuerin zu. Der Soldat nahm seinen Löffel aus dem Ranzen, rührte im Topf um und kostete ab. „Nun, wie wird’s?“ fragte die Alte. „Bald ist’s fertig“, sagte der Soldat. „Nur schade, dass kein Salz dran ist.“

    „Salz hab‘ ich hier, nimm.“ Der Soldat salzte und kostete wieder. „Ein bisschen Graupen müssten noch hinein“, sagte er. Die Alte brachte ein Säckchen Graupen aus der Kammer. „Nimm nur, soviel du brauchst.“
    Der Soldat ließ Axt, Wasser und Graupen kochen und rührte von Zeit zu Zeit um. Dann schmeckte er wieder ab. Die Alte starrte ihn neugierig an.
    „Gut ist der Brei“, lobte der Soldat. „Ein bisschen Fett noch und man könnte sich die Finger ablecken.“ Die Bäuerin hatte auch Fett im Spind.
    Sie taten eine große Menge davon in den Topf. „Nun greif zu, Bäuerin.“ Der Soldat und die Bäuerin löffelten den Brei, und er mundete ihnen vortrefflich.

    Hier findest du das Märchen zum Axtbrei.

  • Der Irak – sicher genug für die Rückkehr?

    Kurz vor Weihnachten besuchte der deutsche Außenminister Heiko Maas den Irak. Am 18. Dezember 2018 traf er sich dort mit dem irakischen Außenminister Mohammed Ali al-Hakim in Bagdad, um über eine mögliche Rückführung irakischer Flüchtlinge zu reden. Angereist im Militärflugzeug und mit Schutzweste ausgestattet, einigten sich Heiko Maas und Mohammed Ali al-Hakim in einem vom Militär bewachten Gebäude darauf, dass das Land sicher sei. In diesem Zusammenhang forderte al-Hakim die aus dem Irak Geflüchteten Menschen dazu auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Für viele klingt dies wie eine Drohung.

    Gefährliche Flucht

    Der Irak ist noch lange nicht sicher. Deswegen haben viele Iraker und deutsche Salafis in den letzten vier Jahren dagegen demonstriert, dass das Land als sicher eingestuft wird. Die Flucht war für viele Menschen die letzte Möglichkeit. Viele Geflüchtete haben jetzt Angst, dass die deutschen Behörden auf die irakischen Minister hören und das Land als sicher einstufen. Eine Rückkehr könnte für viele Menschen verheerende Folgen haben.

    Abu Omar, 32, erzählt dazu seine eigene Geschichte: Er ist mit seiner Frau und seinen zwei Kindern von der Türkei nach Griechenland über das Mittelmeer geflohen. Das Boot erfüllte nicht einmal die grundlegendsten Sicherheitsstandards. Von Griechenland aus sind sie mit Lastwagen durch Serbien und Österreich nach Deutschland gekommen. Das letzte Stück zu Fuß. Diese Flucht war nicht nur gefährlich und riskant, sondern auch teuer: Tausende Dollar haben die Schlepper verlangt.

    Wirkliche Sicherheit gibt es nur für die Wenigsten

    Ursprünglich stammt Abu Omar aus dem Dora-Gebiet südlich von Bagdad. Das Gebiet war großteils sunnitisch. Nachdem bewaffnete schiitische Gruppen die Kontrolle über das Gebiet erlangt hatten, vertrieben sie die sunnitischen Bewohner. Sie warfen ihnen vor, bewaffneten sunnitischen Organisationen zu helfen. Aus Angst um seine Familie blieb Abu Omar keine andere Möglichkeit als die Flucht.

    Nach der Ankunft in Deutschland wurden er und seine Familie von den deutsche Behörden aufgenommen und versorgt. Zwei Jahre später erhielt er humanitäres Asyl. Seine Kinder konnten in die Schule gehen und waren nun endlich in Sicherheit. Zumindest solange, bis die irakischen Minister forderten, dass sie in den Irak zurückkehren sollten. Sie begründeten dies damit, dass es sicher genug sei, wieder im Irak zu leben. Doch von welcher Sicherheit reden sie? Der Staat hat die Kontrolle über die Straßen verloren und die Politiker bewegen sich ausschließlich in befestigten Räumen, die von tausenden Soldaten bewacht werden. Die Beamten sind hier sicher, aber von den Bedingungen für die Bevölkerung wird nicht gesprochen.

    Nicht jeder kann Kritik äußern

    Abu Omar steht mit seinen Bedenken nicht allein. Mustafa Mohammed Ali, 28, sagt, dass er sich heute noch mehr Sorgen macht als vor drei Jahren. Obwohl er schon so lange hier ist, hat er immer noch nicht das Recht, in Deutschland leben zu können. Er kam aus Griechenland nach Deutschland. Wie Abu Omar hat er vorher das Mittelmeer von der Türkei aus überquert, um nach Europa zu gelangen. Auf den Weg nach Deutschland kam er durch Bulgarien, wo er von den Behörden verhaftet und für einen Monat ins Gefängnis gesteckt wurde. Erst nachdem sie seine Fingerabdrücke genommen hatten, wurde er wieder freigelassen und konnte nach Deutschland kommen.

    Mustafa Mohammed Ali kommt aus Nasiriyah im Südirak. Die Stadt wird von bewaffneten Milizen vollständig kontrolliert. Unter dem Vorwand, dass sie nicht in den Irak zurückkehren dürfen, werden junge Menschen verpflichtet, sich den Milizen anzuschließen. Viele Iraker, die ihre Bedenken und Sorgen bezüglich der Sicherheit im Irak äußern, wollen nicht namentlich genannt werden. Sie haben Angst, ihre Angehörigen im Irak zu gefährden. Aber nicht alle Schweigen. Jaafar Nasrawi kritisiert die Zustände im Irak offen: Streitkräfte, die das Land beherrschen, die Ausbeutung der Menschen durch Parteien und die Unfähigkeit der Sicherheitskräfte, die Gebiete nach dem Abzug des Militärs zu kontrollieren.

    Dies sind alles Gründe, warum der Irak nicht sicher ist. Wenn Politiker aus Deutschland oder dem Irak also erneut wieder bekräftigen sollten, wie sicher der Irak ist und Menschen, die dort vor dem Tod geflohen sind, zurückführen wollen, sollte man diese Aussagen kritisch betrachten.

  • Wer sind die Flüchtlinge?

    Das Land hat sich verändert, was auch zu einer politischen Spaltung führte. Anfangs konzentrierte die Politik sich darauf, die Geflüchteten sicher in Deutschland unterzubringen. Schon das war eine große und nur schwer zu bewältigende Aufgabe. Jetzt müssen wir das Zusammenleben lernen.

    Flüchtlinge waren überall: Im Osten, Westen, Norden und im Süden. Die Bahnhöfe, die Turnhallen und die Camps waren voll. Sogar das Open-Air Flüchtlingslager mitten in Berlin war voll. In jeder Straße sah man Dutzende von ihnen. Für die meisten Deutschen waren wir alle gleich und hatten nur einen Namen: Asylsuchende.

    Was uns unterscheidet

    Ich war einer von diesen Menschen. Aber wer sind sie wirklich, die Flüchtlinge? Es gibt keine klare Definition von Flüchtlingen. Wir unterscheiden uns in unseren Traditionen, unserer Kultur, der ethnischen Zugehörigkeit und in der Religion. Wir haben unterschiedliche politische Orientierungen, Lebensstile, Akzente, Sprachen, Körpergröße und Augenfarbe. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Als nicht-religiöser Syrer und sunnitischer Muslim musste ich 2015 mit 9 unterschiedlichen und mir völlig fremden Personen in einem Zimmer schlafen. Davon waren zwei jesidische Kurden, einer Schiit aus Afghanistan, zwei Christen aus Syrien, einer aus Somalia und sogar einer aus Albanien. Von den übrigen zwei wusste ich die Nationalität nicht, da sie kein Englisch sprachen.

    Was uns verbindet

    Wir waren wie ein Salat in einer Schüssel. Ich lernte während meines Aufenthalts in der Unterkunft Gebärdensprache. Wir waren wirklich multikulti. Hinter jedem Flüchtling steckt eine Geschichte und diese Geschichten des Krieges, des Schmerzes bringen uns zusammen. Die traurige Asylreise von der Flucht bis zur Ankunft, vom Deutschlernen über die Integration bis zur Arbeitssuche bringt uns als Flüchtlinge zusammen. Die Warteschlange vor der Ausländerbehörde und dem Jobcenter macht uns ohne Zweifel zu Gleichgesinnten. Abends weinen wir, weil wir unsere Verwandten, Eltern, Familien vermissen und dann träumen wir schlecht. Die Flucht ist weder Option noch Traum. Als mich meine Lehrerin in der Schule fragte, was ich einmal werden will, war meine Antwort Pilot .Ich habe nicht geantwortet, dass ich ein Flüchtling im Traumland Deutschland sein will.

    Was euch mit uns verbindet

    Habt ihr einen von diesen Flüchtlingen getroffen? Habt ihr mit ihnen geredet? Ich bin sicher, dass ich die Hälfte der Unterhaltung bereits kenne, obwohl ich das Gespräch nicht gehört habe. Die Flüchtlinge sind traumatisiert. Sie haben schlimme und schöne Erinnerungen an die Heimat. Außerdem stehen sie hier unter Druck. Viele sind auf der Suche nach einer Wohnung, weil sie keine Lust haben, im Heim mit neun Personen in einem Zimmer zu leben.

    Ich kenne viele, die davon träumen, ihre Kernfamilie (Ehefrau und die Kinder) nachholen zu dürfen. Etliche nehmen an den Sprachkursen teil. Viele absolvieren Praktika und leisten alles Mögliche, um den richtigen Weg in Deutschland zu finden. Viele haben jetzt Arbeit und zahlen Steuern. Nach 5 Monaten in Deutschland war ich beim ZDF und ich wurde gefragt, was ich in Deutschland machen will. Meine Antwort war: „Ich will Steuern zahlen!“ Nach zwei Jahren Steuern zahlen darf ich mich ein bisschen beschweren: Die Steuern sind sehr hoch in Deutschland.

    Sowohl die Geflüchteten als auch die Deutschen kommen mit viel Neuem und Fremdem in Berührung. Daher verstehe ich die Ängste der Deutschen. Sie fürchten Islamisierung, Extremismus und Terrorismus und eine mögliche Veränderung der Lebensweise in Deutschland. Diese Ängste und die zukünftigen Herausforderungen müssen gemeinsam und frühzeitig angegangen werden. Wir müssen gegenseitigen Respekt voreinander zeigen und Toleranz lernen und üben. Die Kinder der Migranten müssen die deutschen Gesetze und die Verfassung als die wichtigste Grundlage des Zusammenlebens in Deutschland verstehen. Denn Deutschland wird ihre Heimat sein.

  • „Det is Berlin.“

    Zu Berlin habe ich tausend Geschichten in meinem Kopf. Ich gebe zu, dass ich hier viele Fesseln gesprengt und die ersten Buchstaben meiner Persönlichkeit geschrieben habe. Heute erinnere ich mich an die Zeit, als ich neunzehn Jahre alt war. Ich erinnere mich an die große Freude, als ich nach Mitternacht ausging und nur einen billigen Schlafanzug anhatte, von schlechter Qualität und sehr bunt. Mit ungekämmten Haaren ging ich hinaus und lief auf einem der Plätze Berlins herum.

    Heute blicke ich zurück und amüsiere mich über mein damaliges Verhalten. Manchmal denke ich, dass es falsch war, was ich tat und dass ich ein wenig verrückt war. Dann sage ich mir wieder: Das ist doch mein gutes Recht, zu tun und zu lassen, was ich will. Es ist mein Recht, das diejenigen, die die Normen festlegen und sich der Menschen habhaft machen, mir geraubt haben.

    „Det is Berlin.“

    Als ich daran dachte, saß ich in der Bahn direkt hinter der Führerkabine. An einer bestimmten Station stieg der Bahnführer aus, um einem Menschen mit Behinderung beim Einsteigen zu helfen. Seltsamerweise ließ er ihn dann aber doch nicht einsteigen, da er nicht verstanden hatte, wohin dieser Mensch möchte. Der Bahnführer brüllte plötzlich laut durch den Lautsprecher: „Zurückbleiben! Zurückbleiben!“ Die Frau, die neben mir saß, fragte ihren Mann, was mit dem Bahnführer los sei. Ihr Mann versuchte ihr eine Erklärung für das Verhalten des Bahnführers zu geben: „Det is Berlin.“

    Die Bahn setzte die Fahrt fort. Ratter, ratter, ratter… Durch die wiederholte Reibung von Rad und Schiene kamen die Gedanken in meinen Kopf zurück. Ratter, ratter, ratter… Du musst deutsch lernen! Ratter, ratter, ratter… Du musst das Geheule der Bomben und den Tod vergessen! Ratter, ratter, ratter… Du musst dich akklimatisieren und integrieren! Ratter, ratter, ratter… Du musst eine Arbeit finden, studieren und die Prüfungen bestehen! Ratter, ratter, ratter… Du musst…

    Aber was ist mit dem Kulturschock? Was ist mit den Visionen, den Alpträumen, den Sorgen und schlaflosen Nächten? Was hat das alles zu bedeuten? Ratter, ratter, ratter… Wir, die Kinder des Krieges, werden wie eine Ware billig gehandelt! Von den Kriegstreibern, ihren Mittelsmännern und auch der Presse direkt danach. Nämlich von denen, die unsere Narrative, unsere Bilder und Schicksale missbrauchen. Was haben wir davon? Nichts! Denn wir bekommen nichts von dem, was wir am Notwendigsten brauchen. Was wir brauchen ist Stabilität und Sicherheitsgefühl. Aber was ist mit unserer psychischen Sicherheit?

    Hier wartet der Zug nicht auf dich

    Wenn ich die Sprache der Finanzen und der Zeit von früher beherrschen würde, hätte ich in meinem Werdegang sicherlich etwas anders gemacht. Aber ich war damals mit anderen Dingen beschäftigt und suchte einen anderen Sinn. Ich kann den Wert dessen, was ich tat, heute nicht bestimmen. Heute reden alle von Werten und Prinzipien, aber wer hält sich noch an Werte und Prinzipien?

    Det is Berlin. Ja, tatsächlich, das ist Berlin. Hier wartet der Zug morgens nicht auf dich, wenn du verschlafen hast. Keiner interessiert sich dafür, ob du absichtlich den Morgen verschlafen hast oder etwas anderes im Sinn hattest. Keiner wird oder möchte es erfahren.

    Det is Berlin. Die Sirenen in Berlin verstummen nicht, auch wenn die Straßen leer sind oder die Nacht fortgeschritten ist. Diese Stadt braucht unentwegt einen Retter.

    Als wären wir Aliens

    Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen, damit ich die Last weniger spüre. So konnte ich mir die „Integration“ leichter machen. Ich löschte mein Haus aus meinem Gedächtnis und beseitigte noch dazu alle Erinnerungen, die mir im Weg standen. Dort war die Zeit langsamer und leichter. Ich könnte sogar heute sagen, dass die Zeit, ohne dass ich es bemerkt habe, stehen blieb. Die bittere Wahrheit, die mir ins Gesicht springt, ist der Tod. Dort würde ich umgebracht werden. Auf die eine oder die andere Weise. Hier werde ich dazu motiviert, mich selbst umzubringen, mit dem Unterschied, dass ich hier die Wahl habe, auf welche Weise ich es tue.

    Und jetzt, nach dem bitteren Kampf zwischen dem Hier und Dort entschied ich mich, mit meinen 25 Jahren in aller Ruhe hier zu leben und mich von den Konsumenten unserer Erzählungen fernzuhalten. Von denjenigen, die über uns reden, als wären wir Aliens oder Fremdlinge, die auf dem europäischen Kontinent gelandet sind, um als Versuchskaninchen missbraucht werden zu können.

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • „Auch ich habe Privatsphäre verdient.“

    Zwischen dem Hier und Dort habe ich eine Reise hinter mich gebracht, die mit vielen Gefahren verbunden war. In der Hoffnung, dass ich eines Tages an einem sicheren Ort ankomme, an dem ich meine Träume verwirklichen kann. Meine Sicherheit war aber nicht die einzige Bedingung, um diese Träume zu realisieren.

    Als ich als Flüchtling in Deutschland ankam, in diesem sicheren Land, schickte man mich zunächst, wie alle anderen Flüchtlinge, in eine weit abgelegene Gegend. Ich hatte das Gefühl, ich wäre im Exil. Ich dachte mir zunächst, ich hätte nicht das Recht wie die anderen in einer Stadt zu leben. Und darüber hinaus dachte ich, ich hätte nicht das Recht über mein Schicksal mitzubestimmen. In meinem Heimatland zwang mich der Krieg, das Land zu verlassen. Und so habe ich es getan. Hier legten die zuständigen Behörden meinen Aufenthaltsort fest und trugen mir auf, den Ort nicht zu verlassen. Ich fügte mich der Vorschrift.

    „Sich fügen“ für die Integration

    Ich versuchte mich zu akklimatisieren. Aber wie kann das gehen? Und wie sollte ich mich akklimatisieren? Jeder wollte aus mir eine Kopie von selbst sich machen, mit der Begründung, ich solle mich integrieren. Und jeder definiert den Begriff Integration auf seine eigene Art und Weise. Ich ging dabei zwischen den verschiedenen Bedeutungsfeldern verloren.

    Man sagte mir: Integration ist Sprache lernen. Ich lernte die Sprache. Und man sagte: Integration ist Respekt gegenüber den Gesetzen. Ich machte mich mit den Gesetzen dieses Landes vertraut und respektierte sie, so wie ich denjenigen respektierte, der mir das sagte. Dann sagten sie zu mir: Integration ist Respekt vor sozialen Bräuchen und Normen. Schön. Wir haben auch unsere sozialen Bräuche und Normen, dann respektieren wir auch diese.

    Am Ende stellte ich fest, dass ich nur eine einzige Möglichkeit hatte: Auf die Art zu leben, wie man es mir vorschreibt. Ich sollte mir den Lebensstil zu eigen machen, der mir auferlegt wurde: Ihre Musik hören, ihre Gerichte essen und mich nach ihrem Geschmack kleiden. Das Wichtigste für sie aber ist, dass ich auf meine Kopfbedeckung verzichte, denn sie passt ihnen nicht.

    Ein undankbarer Flüchtling

    Das wollte ich nicht, denn ich habe meinen eigenen Lebensstil und ich bin glücklich damit. Ich lehnte ihre Beschlüsse ab und somit wurde ich als „nicht-integriert“ bezeichnet. Man nannte mich einen undankbaren Flüchtling. Es verbreitete sich die Nachricht, dass ich eine nicht integrationsfähige und kranke Frau sei, die nicht in der Lage ist, sich mit anderen zu verstehen. Das alles nur, weil ich nicht das tat, was mir nicht passte.

    Ich liebe die anderen und freue mich, mit ihnen zu kommunizieren. Aber ich habe es nicht gern, mich in die Privatsphäre und Lebensweise anderer einzumischen, weil ich es nicht gern habe, dass jemand sich in meinen privaten Lebensbereich einmischt und meine Freiheit einschränkt. Alles was ich erwarte ist, dass sie mich wie einen gleichwertigen Menschen behandeln. Wie sie ihre Privatsphäre haben, die ich respektiere, möchte auch ich meine Privatsphäre haben.

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

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