Autor: Angelika Bauer

  • Mit veedu den richtigen Beruf finden

    Erzählt doch erstmal ein bisschen: Was erwartet die Teilnehmenden bei euch?

    Die Teilnehmenden erwartet ein vielfältiges und praxisorientiertes Angebot zur Berufsorientierung. Unsere Kurse umfassen Workshops, Online-Kurse, Sprachkurse, Filme und Bewerbungstrainings. Wir beraten sie vor Beginn des Kurses, machen sie mit potenziellen Arbeitgebenden bekannt und vermitteln ihnen ein Praktikum in einem Berliner Betrieb oder Unternehmen. Wir hoffen mit unserer Arbeit Menschen für verschiedene Berufe zu begeistern und sie auf ihrem Berufsweg ein Stück weit zu begleiten.

    Ihr bietet Bildungsangebote in sehr unterschiedlichen Bereichen an – Pflege, Handwerk und Digitales. Wieso diese Felder?

    Anne Woltmann von veedu
    Anne Woltmann vom Projekt „Neustart Pflege“. Foto: Markus Hardt/Studio2B GmbH

    Viele Berufe insbesondere in den Bereichen Pflege und Handwerk stehen momentan vor zwei großen Herausforderungen: Fachkräftemangel und Digitalisierung. Wer länger nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv war, kann sich durch Letztere zusätzlich abgehängt fühlen. Denn Alltag und Arbeit erfordern den Umgang mit Medien und Technik. Hier setzen unsere Angebote an: Wir möchten einerseits Menschen für diese Berufsfelder begeistern und die Vielfalt an Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten aufzeigen. Andererseits möchten wir Berührungsängste gegenüber der digitalen Arbeit abbauen. Deshalb beinhalten alle unsere Angebote auch digitale Formen der Wissensvermittlung wie z.B. E-Learning, Sprachlern-App oder 360-Grad-Filme.

    Unser Monatsthema im Juni ist „Lernen“. Was lernen die Teilnehmenden bei euch?

    Simone Drews von veedu
    Simone Drews vom Projekt „Zukunftswerkstatt Handwerk“. Foto: Markus Hardt/Studio2B GmbH

    Zunächst einmal können sich die Teilnehmenden einfach mal ausprobieren und ihren eigenen Berufsvorstellungen stärker nachgehen. Dabei stellen sie vielleicht fest, dass ein bestimmter Beruf für sie sehr spannend ist oder auch das Gegenteil der Fall ist. Das ist eine wichtige Erkenntnis für den weiteren Berufsweg. In allen Kursen erlernen die Teilnehmenden praktische Fähigkeiten im jeweiligen Berufsfeld, aber es werden auch Kompetenzen gestärkt, die heute branchenübergeifend gefragt sind. Dazu gehören z.B. Teamarbeit, Eigeninitiative und Lernbereitschaft. Letztendlich wünschen wir uns aber vor allem, dass nach Abschluss eines Kurses die Teilnehmenden Motivation und Selbstvertrauen für den eigenen beruflichen Weg gewinnen konnten und für sich herausgefunden haben, wo die berufliche Reise hingehen soll.

    Wie gut klappt es, dass die Teilnehmenden danach den Übergang in einen Beruf schaffen?

    Das ist ganz unterschiedlich, da unsere Teilnehmenden mit ganz verschiedenen Ideen und Vorkenntnissen in die Projekte starten. Einige Personen haben im Anschluss eine feste Anstellung oder einen Ausbildungsplatz gefunden. Manche haben nach Projektende nochmal einen ganz anderen beruflichen Weg eingeschlagen. Für uns ist es einfach wichtig, dass unsere Teilnehmenden sich orientieren und ausprobieren können – mit ganz offenem Ausgang. Wir begleiten sie auch nach Projektende weiter und versuchen beim Berufseinstieg zu unterstützen.

    Wenn ich es auf der Homepage richtig verstehe, richten sich die Angebote an alle Menschen, die aktuell arbeitssuchend sind. Arbeiten Neu-Zugewanderte mit „Alteingesessenen“ zusammen? Wie funktioniert das?

    Ja, alle unsere Angebote richten sich an Menschen ab 25 Jahren, die eine Arbeit suchen und sich beruflich neu orientieren möchten. Unsere Kurse werden von einer heterogenen Teilnehmerschaft besucht, sowohl was Alter, Geschlecht und Herkunft als auch Bildungshintergrund und Berufserfahrung angeht. Das funktioniert in der Praxis total gut, weil es einen interkulturellen und fachübergreifenden Austausch gibt. Die Teilnehmenden helfen sich gegenseitig zum Beispiel bei sprachlichen oder inhaltlichen Herausforderungen und stärken dadurch gleichzeitig auch wichtige soziale Kompetenzen.

    Ihr seid bisher nur in Berlin aktiv. Wir sitzen in Hamburg. Gibt es die Aussicht, dass ihr eure Projekte auf andere Städte ausweitet?

    Unsere Projekte sind gefördert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales im Rahmen der Bezirklichen Bündnisse für Wirtschaft und Arbeit. Ziel der Förderlinie ist es, die Beschäftigungschancen in Berlin zu verbessern. Die Durchführung der Projekte ist somit an das Land Berlin gebunden. Wir können uns aber gut vorstellen, auch in anderen Bundesländern wie Hamburg aktiv zu werden und ein ähnliches Bildungsprojekt anzubieten.

    Was müssen Menschen, die sich für eure Angebote interessieren, tun, um mitzumachen?

    Wer gerne an einem unserer Kurse teilnehmen möchte oder sich erstmal einen Überblick über die Angebote verschaffen möchte, kann sich telefonisch oder per Email melden. Wir vereinbaren dann einen Termin für ein erstes persönliches Kennenlerngespräch, in dem wir über die Inhalte und den Ablauf der Kurse informieren und gemeinsam besprechen, welches Angebot am besten zu der Person passt. Außerdem bieten wir zweimal die Woche eine offene Sprechstunde an, in der wir unsere aktuellen Kurse zur Berufsbildung vorstellen. Um an einem Kurs teilzunehmen, sollte die Person in Berlin wohnhaft, mindestens 25 Jahre alt und arbeitslos sein. Wir empfehlen zusätzlich ein Sprachniveau Deutsch ab B1.

    Hier erreicht ihr das Team von veedu:

    neustart-pflege

    zukunftswerkstatthandwerk.

    makerlab-berlin

  • Artikel 13 – My home is my castle

    Das Grundgesetz schützt in Artikel 13 die Wohnung vor Eindringlingen. In der eigenen Wohnung fühlt man sich meist geborgen. Man ist zuhause, kann sich entspannen und neue Energie für den Alltag tanken. An manchen Orten, z.B. in Flüchtlingsunterkünften, ist dieses Recht dagegen schwer durchzusetzen, wie Hakim aus Al-Ahwaz berichet.

    In Artikel 13 des Grundgesetzes geht es um die „Unverletzlichkeit der Wohnung“. Das Gesetz schützt sowohl vor dem Staat als auch vor anderen Personen. Das bedeutet, dass niemand ohne weiteres in die eigene Wohnung eindringen darf – auch nicht die Polizei:

    (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. [expand title = „Weiterlesen“]

    (3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden.

    (4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen.

    (5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.

    (6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle.

    (7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden. [/expand]

    Gefahr im Verzug heißt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintritt, wenn nichts unternommen wird.

    Artikel 13 dient also dazu, die Privatsphäre des einzelnen in seiner Wohnung zu bewahren. Denkt man an die beengten Zustände in Flüchtlingsunterkünften, wird schnell klar, dass die Umsetzung dieses Artikels nicht immer einfach ist.

    Privatsphäre gilt für alle

    Hakim Chehbishat kam 2012 aus der Region Al-Ahwaz, im heutigen Iran, nach Deutschland. Er berichtet, dass es in der Unterkunft, in der er kurz nach seiner Ankunft lebte, keine Privatsphäre gab. Er wohnte zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst, in einem Raum mit sieben weiteren Personen. Als er nach Hamburg zog, musste er immer noch mit drei anderen Bewohnern ein Zimmer teilen. „Privatsphäre hat keine Bedeutung in den meisten Unterkünften in Deutschland“, sagt Hakim. „Wenn man sich in Ruhe mit seiner Familie unterhalten möchte, muss man den Raum verlassen“. Die Mitarbeiter*innen würden immer Gründe finden, warum sie Schlüssel für die Privaträume bräuchten. „Wenn man die Sprache noch nicht gut spricht, kann man sich schwer wehren“, erzählt Hakim.

    Pro Asyl macht darauf aufmerksam, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung auch in Flüchtlingsunterkünften gilt. Allerdings komme es immer wieder vor, dass Mitarbeiter*innen der Unterkunftsbetreiber Zimmer ohne Grund betreten oder sogar durchsuchen. Es gebe Hausordnungen, die unverhältnismäßig in die Grundrechte eingreifen. Auch wenn es aus praktischen Gründen in Flüchtlingsunterkünften nicht immer möglich ist, die Privatsphäre vollständig zu gewährleisten, so kommt den Bewohner*innen trotzdem ein „Hausrecht“ in ihren Schlaf- und Wohnräumen zu, so ProAsyl. Das Grundrecht gilt auch umgekehrt: Man darf selbst bestimmen, wer einen besucht. In Flüchtlingsunterkünften darf dieses Recht nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden.

    Überwachung: nicht ohne weiteres

    Hakim Chehbishat vor einer roten Wand. In diesem beitrag spricht er über Artikel 13 des Grundgesetz
    Hakim Chehbishat. Foto: Masoud Chehbishat

    Der zweite Aspekt von Artikel 13 betrifft die Nutzung technischer Möglichkeiten der Überwachung. Im Jahr 1998 wurden dem Gesetz einige Paragraphen hinzugefügt, die z.B. akustische Formen der Überwachung wie den Einsatz von Richtmikrofonen erlauben, aber auch regeln, unter welchen Bedingungen der Staat diese einsetzen darf. Private Gespräche dürfen nicht ausgewertet werden. „Führt eine Wohnraumüberwachung zu Informationen aus dem geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung, muss sie abgebrochen und die Aufzeichnungen müssen unverzüglich vernichtet werden“, erklärt die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb).

    In Hakims Heimat Al-Ahwaz, einer Region, die bis heute um ihre Unabhängigkeit kämpft, ist die Überwachung durch den Staat allgegenwärtig. Hakim gehört zur arabischen Minderheit im Iran, die noch stärker unter Beobachtung stehen als die restliche Bevölkerung. In Schulen und Moscheen sei die Geheimpolizei aktiv, aber auch im Internet wird kontrolliert. Von Hakim verlangte die Geheimpolizei als Lehrer zu arbeiten und dabei auszuspionieren, wer im Ort einen Computer hat.

    Kontrolle ist gut – Privatsphäre aber wichtiger

    Heute ist für viele Menschen auch das Smartphone eine Art Zuhause. Seit Mai 2017 darf das BAMF Handydaten von Geflüchteten auslesen, um die Identität und Staatsangehörigkeit der Asylbewerber*innen festzustellen. Hakim findet, das hat Vor- und Nachteile. Ein Argument dafür ist, dass Terrorismus früher erkannt werden kann. Als Nachteil sieht Hakim die Durchleuchtung: Die privaten Nachrichten werden gelesen und man steht unter der Kontrolle des Staates. „Wie im Iran“, sagt Hakim. „Kontrolle ist gut, aber nicht so, dass man seine Privatsphäre verliert.“

    In Deutschland ist allerdings streng geregelt, wer wann überwacht werden darf. Auch das BAMF darf keine Geodaten nutzen, sondern nur Metadaten von Fotos und Telefonnummern der Kommunikationspartner auswerten, um herauszufinden, wo Asylbewerber*innen herkommen und ob sie sich über längere Zeit in einem sicheren Drittland aufgehalten haben. Zudem wird an vielen Stellen berichtet, dass die Auswertung von Handydaten bei Geflüchteten kaum Erfolge erzielt. Im Jahr 2018 wurden nur in zwei Prozent der Fälle, in denen Handys ausgewertet wurden, Falschaussagen der Asylbewerber*innen durch die digitalen Daten aufgedeckt (Quelle: Süddeutsche.de).

    Die weiteren Artikel unserer Grundgesetz-Reihe findet ihr hier: Das Grundgesetz wird 70.

  • Artikel 11 – Wer darf wo leben?

    In Artikel 11 geht es darum, dass man sich frei bewegen und leben darf, wo man möchte. Anna hat mit Sowmar aus Syrien darüber gesprochen, ob dieses Recht für Geflüchtete  genauso gilt. Er findet: In Deutschland schon.

    In Deutschland sind wir daran gewöhnt, zu reisen und den Wohnort zu wechseln. Die meisten Menschen ziehen mehrmals im Leben um – von Stadt zu Stadt, von der Stadt aufs Land oder umgekehrt. Dass diess möglich ist, wird in Artikel 11 des Grundgesetzes geregelt, der die Freizügigkeit der Deutschen im Bundesgebiet sichert:

    (1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. [expand title = „Weiterlesen“]

    (2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist. [/expand]

    Das bedeutet, man darf sich aufhalten und wohnen, wo man möchte. So weit, so gut. Dieses Recht darf aber unter bestimmten Umständen eingeschränkt werden. Hier gibt es mehrere Regelungen. Eine erste Einschränkung betrifft den Fall, dass Menschen nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können und „der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden“. Man kann also Menschen, die Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten, beispielsweise untersagen, in eine andere Stadt zu ziehen, wenn Wohnungen dort wesentlich teurer sind. Auch bei Jugendlichen, bei denen eine Gefahr gesehen wird, dass sie verwahrlosen, kann bestimmt werden, dass sie in ein Heim ziehen müssen.

    Eine weitere Einschränkung tritt bei Gefahrensituationen in Kraft: Wenn Seuchen ausbrechen oder Naturkatastrophen passieren, gilt die Freizügigkeit nur eingeschränkt. Darunter fallen auch Situationen, in der „die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ in Gefahr ist. 1968 wurde die Notstandsverfassung verabschiedet, die in Krisensituationen die Handlungsfähigkeit des Staates gewährleisten soll. Die Einführung wurde von Protesten der Außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung begleitet. Die Gegner*innen befürchteten, dass der Staat unverhältnismäßig großen Rechtsspielraum erhalten könnte, so wie es in der Vergangenheit, vor allem in der NS-Zeit, durch die Ermächtigungsgesetze der Fall war.

    Sowmar Kreker in einem Park. Er spricht in diesem Beitrag über Artikel 11
    Sowmar Kreker. Foto: Hussam Al Zaher

    Bewegungsfreiheit – auch für Geflüchtete

    Für Asylbewerber*innen gilt in Deutschland als einzigem Land in der EU die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen für die ersten drei Monate nach ihrer Ankunft entweder den Bezirk, den Landkreis oder das Bundesland nicht verlassen, in dem sie gemeldet sind. Ist das Asylverfahren abgeschlossen, gilt aber, dass man sich den Wohnort frei aussuchen darf. Die Freizügigkeit findet sich auch in der Genfer Flüchtlingskonvention, die in Artikel 26 festlegt ist, dass anerkannten Flüchtlingen das Recht gewährt werden muss, ihren Aufenthaltsort zu wählen und sich frei zu bewegen.

    Sowmar Kreker, der 2018 aus Syrien nach Deutschland kam, hatte seit seiner Ankunft nicht das Gefühl, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein. Er sieht das Problem eher darin, dass es Geflüchteten am Anfang oft schwer fällt, zu entscheiden, wohin sie gehen sollen und was ein guter Ort zum Leben für sie wäre. Daher landen sie oft in Städten, wo sie keine Perspektive haben oder dort, wo ihre Community lebt.

    Sowmar weiß, dass es dann oft schwierig ist, mit der Bevölkerung außerhalb des eigenen Kreises in Kontakt zu kommen. Im schlimmsten Fall kann es zu einer „Gettoisierung“ kommen. Er findet: „Geflüchtete sollten erst einmal hier ankommen, die Sprache lernen und das Land verstehen. Dann können sie ihre Freiheit nutzen und vernünftig entscheiden, wo sie leben möchten.“ Sowmar selbst lebt aktuell in Solingen, wo er eher zufällig gelandet ist.

    Freizügigkeit ist nicht gleich Freizügigkeit

    Sowmar war schon mehrfach in Griechenland, um gemeinsam mit einer arabisch-amerikanischen Anwältin Geflüchtete in den Camps auf den griechischen Inseln zu unterstützen. Dort ist die Situation eine andere: Die Geflüchteten müssen in Camps bleiben und dürfen nicht weiterreisen, bis sie einen schwarzen Stempel in den Pass bekommen. Nach Sowmars Erfahrung kann das zwischen vier Monaten und drei Jahren dauern. Nur Notfälle können weiterreisen, z.B. schwangere Frauen. Wovon es abhängt, dass man den Stempel bekommt, ist nicht transparent. Sowmar vermutet, dass vor allem das Herkunftsland entscheidend ist.

    Die meisten Geflüchteten zieht es in die Städte. Viele wollen nach Athen. Doch Sowmar empfiehlt nicht unbedingt, die Weiterreise anzutreten. In den Städten ist die Versorgung nicht besser. Die Wahrscheinlichkeit, obdachlos zu bleiben, ist sehr hoch.

    Das europäische Recht hält die Geflüchteten auf den Inseln, die wie ein Gefängnis für sie werden. Freizügigkeit genießt also erst, wer von den Behörden einen gewissen Status zugewiesen bekommen hat. Viele Geflüchtete tun alles, um den notwendigen Stempel in ihren Pass zu bekommen. (Hier berichtet die Schweizer Wochenzeitung WOZ eindrücklich über die Situation in den Camps.)

    Die weiteren Artikel unserer Grundgesetz-Reihe findet ihr hier: Das Grundgesetz wird 70.

  • Aus zwei mach mehr

    Zwei Personen sind schon ein Team. Zu zweit ist man eben nicht alleine. Und zusammen schafft man mehr. Es ist wie beim Tandem-Fahren: Man teilt sich den Kraftaufwand und kommt immer gemeinsam ans Ziel. Wer nicht mehr kann, macht Pause und trotzdem geht es weiter. Allerdings benötigt man auch eine gute Kommunikation und muss sich aufeinander einstellen. Zwei Personen oder ein Tandem können der Anfang für eine Gemeinschaft sein, z.B. eine Community der Schreibenden – gegen Rechts, gegen Rassismus, für Menschenrechte, faire Asylverfahren und sichere Fluchtwege. Aus zwei Personen werden schnell mehr: 2, 16, 256 … Deshalb das Schreibtandem-Projekt des Flüchtling-Magazins.

  • Erkenntnisse der Migrationsforschung: Interview mit Immigration Policy Lab

    Was genau erforscht ihr als Migrationsforscher?

    JP: Wir setzen uns mit drängenden Fragen der Einwanderungs- und Integrationspolitik auseinander. Unser Ziel ist es, die empirische Evidenz dafür zu liefern, welche politischen Maßnahmen funktionieren und welche nicht. Inhaltlich lässt sich unsere Migrationsforschung in drei Teile gliedern:

    Wir untersuchen, wie die Einstellungen von Einheimischen zu Einwanderung zustande kommen, welche Auswirkungen die Regelungen zu Asyl, Integration und Einbürgerung für Migrantinnnen und Migranten sowie die Aufnahmegesellschaft hat, und wie politische Maßnahmen mit Blick auf die Integration optimiert werden können.

    MM: Ich beschäftige mich vor allem damit, wie Politik Zuwanderung und die Integration von Zugewanderten fördert oder verhindert. Beides kann ein politisches Ziel sein. Jedoch ist selten offensichtlich, ob das Ziel erreicht wird und welche unerwarteten Auswirkungen Politiken wie beispielsweise Arbeitsverbote für Geflüchtete haben. Genau hier kann sozialwissenschaftliche Forschung hilfreich sein: Es geht darum, belastbare Evidenz über die Auswirkungen von Migrationspolitik bereitzustellen.

    Wie sieht euer Arbeitsalltag in der Migrationsforschung aus?

    MM: Idealerweise habe ich den Tag über Zeit, Daten zu analysieren. <lacht> Aber bevor ich das kann, muss ich oft sehr viel Zeit investieren, die Daten zu sammeln und aufzubereiten, beziehungsweise das Forschungsprojekt an sich zu konzipieren. Das dauert oftmals ein Vielfaches solange wie die eigentliche Datenanalyse. Stehen die Resultate erstmal fest, fasst man sie in einem Arbeitspapier zusammen, teilt es mit Kollegen und stellt es auf Konferenzen vor, um es schließlich zu veröffentlichen. Und natürlich unterricht man als Wissenschaftler an der Universität auch noch, was ebenfalls 1-2 Tage in der Woche in Anspruch nimmt.

    JP: Als Executive Director der Forschungsgruppe bin ich für die strategische Ausrichtung, das Partnernetzwerk und das Management des Forschungsportfolios verantwortlich. Da wir für unsere Arbeit mit staatlichen Institutionen, NGOs und internationalen Organisationen zusammenarbeiten, verbringe ich viel Zeit im Austausch mit unseren Projektpartnern.

    Gleichzeitig bin ich für das Projektportfolio unserer Forschungsgruppe zuständig und schaue, dass wir relevante Projekte zu wichtigen Fragestellungen machen und, dass diese mit den eingesetzten Mitteln gut geplant zum Ziel kommen. In meiner Funktion bin ich für die Leitung des IPL Zürich Teams zuständig und unterrichte auch an der ETH Zürich.

    Was motiviert euch persönlich zu dieser Arbeit?

    MM: Die Debatte um Zuwanderung und Geflüchtete ist sehr stark von Emotionen getrieben. Es gibt wenig belastbares Wissen darüber, welche Folgen Zuwanderung hat, wie Zuwanderung und Integration gestaltet werden kann. Das führt zu Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung. Mehr Informationen, mehr Wissen über Zuwanderung und Geflüchtete wird diese Angst und Unsicherheit helfen abzubauen. Meine und unsere Arbeit insgesamt leistet dazu einen Beitrag.

    JP: In unserer Arbeit der Migrationsforschung suchen wir täglich nach Lösungsansätzen zu einem der wichtigsten gesellschaftlichen Themen unserer Zeit. Dies zusammen mit einem hochmotivierten und innovativen Team zu tun, ist sehr bereichernd.

    Ihr arbeitet für das Immigration Policy Lab, das an der ETH Zürich und der University Stanford sitzt. Was genau ist das für eine Einrichtung?

    JP: Mit den beiden Standorten an der ETH Zürich und an der Universität Stanford ist das Immigration Policy Lab eine internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern. Diese sind auf dem Gebiet der Immigrations- und Integrationspolitik spezialisiert und haben gemeinsam ein umfassendes Forschungsprogramm entwickelt. Mit unserem internationalen Team aus Länderexperten zu Europa, Nordamerika, Nordafrika und Nahost können wir die Thematik global erforschen. Anhand der Resultate aus verschiedenen Systemen können wir zudem vergleichen und aufzeigen, was im jeweiligen Kontext am besten funktioniert. Als universitäre Einrichtungen betreiben wir unabhängige Forschung und evidenz-basierte Beratung.

    Welche Ziele verfolgt ihr bzw. das Lab mit eurer Migrationsforschung?

    JP: Unser Ziel ist es, Forschungsergebnisse bereit zu stellen, die gesellschaftlich relevant und für politische Entscheidungsträger brauchbar sind. Dabei wollen wir den involvierten Akteuren mit unserem evidenz-basierten Ansatz Werkzeuge zur Verfügung stellen, mit denen kluge Policies entwickelt werden können, die für Geflüchtete und Aufnahmegesellschaften gleichermaßen nützlich sind.

    Welche Rolle spielt Forschung eurer Meinung nach dafür, die Lebenssituation von Geflüchteten zu verbessern?

    MM: Eine viel zu geringe aus meiner Sicht. Nehmen Sie beispielsweise die zahlreichen Integrationsprogramme des Bundes und der Länder. Kaum eines von denen wird wissenschaftlich evaluiert. Allen gemeinsam ist, dass die Integration von Zuwanderern und Geflüchteten gefördert werden soll. Aber keiner weiß, ob das funktioniert und vor allem, welches dieser Programme am besten funktioniert.

    Das liegt oft auch daran, dass Regierungen selten bereit sind, ihre Daten mit unabhängigen Sozialwissenschaftlern zu teilen und wissenschaftliche Evaluationen zu fördern. Dies ist schade, denn die Erkenntnisse aus diesen Evaluationen würden dabei helfen, dass Geflüchtete in Zukunft bessere Integrationsförderung erhalten.

    JP: Anhand von guter Forschung können wir lernen, welche politischen Maßnahmen in welcher Art und Weise wirkungsvoll sind oder nicht. Mit diesen Erkenntnissen können existierende Maßnahmen verbessert oder neu konzipiert werden, wovon Geflüchtete wie auch Aufnahmegesellschaften profitieren.

    Arbeitet ihr dabei auch direkt mit Geflüchteten zusammen?

    MM: Ja, jeden Tag. In unseren größten Forschungsprojekten befragen wir Tausende Flüchtlinge zu ihren Eindrücken und Einstellungen.

    JP: Wie Moritz bereits erwähnt hat, führen wir in verschiedensten Ländern großangelegte Umfragen bei Geflüchteten durch. Dabei arbeiten wir auch mit Fokusgruppen, wo direkt Betroffene in kleineren Kreisen über ihre Erfahrungen und Motivation berichten.

    Ihr habt vor einiger Zeit eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass Arbeitsverbote für Geflüchtete Integration verhindern und letztlich Kosten verursachen, die der Steuerzahler tragen muss. Wie genau seid ihr bei dieser Studie vorgegangen?

    MM: In der Studie nutzen wir den Umstand, dass ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2000 die damalige deutsche Regierung Schröder zwang, das Arbeitsverbot für Geflüchtete auf 12 Monate zu verkürzen. Während Asylsuchende, die im Jahr 1999 ankamen, zwischen 13 und 24 Monaten warten mussten, bevor sie sich für eine Stelle bewerben konnten, mussten diejenigen, die 2000 ankamen, lediglich 12 Monate warten.

    Als die neue Regelung in Kraft trat, kamen die meisten Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien als Asylsuchende nach Deutschland. Anhand des Mikrozensus untersuchten wir Personen aus Jugoslawien, die entweder 1999 oder 2000 ankamen. Zwei in fast jeder Hinsicht identische Gruppen – bis auf den Unterschied von durchschnittlich 7 Monaten längerem Arbeitsverbot.

    Kurz nach Ablauf des Arbeitsverbots hatten beide Gruppen niedrige Beschäftigungsquoten. Aber diejenigen mit kürzeren Wartezeiten überholten diejenigen mit längerer Wartezeit bald darauf. Nach fünf Jahren hatte etwa die Hälfte der 2000er Gruppe eine Anstellung, während nur ungefähr 30% der 1999er Gruppe eine Arbeitsstelle gefunden hatte.

    Erst 2010, zehn Jahre nach Inkrafttreten der neuen Regelung, schlossen die Nachzügler auf. Diese Kluft lässt sich nicht durch allgemeinere Veränderungen in der Wirtschaft erklären. So fanden die in den Jahren 1999 und 2000 eingetroffenen türkischen Zuwanderer, welche kaum von der Regelung betroffen waren, ähnlich schnell Arbeit.

    Welche Schwierigkeiten gab es dabei?

    MM: Viele verfügbare statistische Daten erlauben es nicht, Asylsuchende ohne weiteres von anderen Zuwanderern zu unterscheiden. Zweitens ist es eine Herausforderung, den Effekt von Beschäftigungsverboten von anderen Faktoren zu isolieren, die ebenfalls beeinflussen, ob Geflüchtete sich erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Geflüchtete in einem Land mit einem kürzeren Beschäftigungsverbot schneller und dauerhaft Arbeit finden, könnte das an einer Vielzahl von Faktoren liegen, die die Länder unterscheiden.

    Woran liegt es, dass Arbeitsverbote letztlich für alle Seiten von Nachteil sind?

    MM: Kurzfristig mögen Arbeitsverbote den Sorgen der Wähler*innen zwar entgegenkommen, langfristig sind sie aber politisch riskant. Wenn Geflüchtete nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen und als Belastung des Sozialsystems wahrgenommen werden, könnten sich Regierungen bald mit einem politischen Aufschrei der Wähler*innen konfrontiert sehen. Hinzu kommt, dass deutsche Arbeitnehmer*innen nicht mal unbedingt von einer Politik, die Geflüchtete vom Arbeitsmarkt fernhält, profitieren.

    Frühere Studien haben gezeigt, dass Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt weder die Löhne der Einheimischen senken, noch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese ihre Arbeitsstelle verlieren. Letztendlich kommt eine Politik, welche die Motivation der Geflüchteten, sich rasch zu integrieren und ein produktiver Teil der Gesellschaft zu werden, optimal fördert nicht nur den Geflüchteten selbst, sondern allen Steuerzahler*innen im Aufnahmeland zugute.

    Die Studie zu Arbeitsverboten von Geflüchteten ist hier in der Kurzzusammenfassung zu lesen:

    Die wissenschaftliche Veröffentlichung findet ihr unter:

  • Eine soziale Frage Irans: Afghanische Flüchtlinge

    Menschen aus Afghanistan haben schon immer im Iran gelebt. Ihr Aufenthalt im Iran ist also nicht als ein Phänomen anzusehen, sondern als eine alltägliche Realität. Auch wenn es einige positive Entwicklungen gibt – noch immer wird Afghanistan mit zu geringer Sachkenntnis von iranischer Seite konfrontiert. Ein kurzer Einblick in die aktuelle politische Lage Afghanistans soll mit diesem Beitrag von  Homayun Alam zum Verständnis der gegenwärtigen Situation beitragen.

    Gesellschaftliche Veränderungen – aber keine Verbesserungen für afghanische Flüchtlinge im Iran

    Als Fazit analysiert und beschreibt der Autor die Lage in den beiden Ländern und die Lebenssituation der Menschen wie folgt: Der Iran gilt seit den erfolgreichen Atomverhandlungen mit den USA (2015) als ein interessantes Land. Es kann für den Iran, dessen Gesellschaft gegenüber der Politikführung eine andere und eventuell säkulare Lebensführung bevorzugt, nicht zukunftsweisend und gewinnbringend sein, bei der sozialen Frage im Umgang mit afghanischen Flüchtlingen keine Veränderungen und Verbesserungen anzustreben.

    Der Iran befindet sich wirtschaftlich in einer einmaligen Situation. Innenpolitisch lassen sich im Land seit der Revolution von 1979 viele Dinge bewegen und zum Positiven für seine Gesellschaft ändern. Außenpolitisch hat der Iran erfahren, dass es nicht einen Politiker wie Ahmadinejads benötigt, sondern eher einen moderaten und weltoffenen Rohani.

    Die soziale Frage Irans im Verhältnis zu afghanischen Flüchtlingen hat globale Relevanz

    Als im Jahr 2015 viele hunderttausende Flüchtlinge – darunter viele  Afghanen – ihren Fluchtweg in Deutschland beendeten, reagierten nicht nur hiesige Politiker und Zivilgesellschaft, sondern auch Wissenschaftler. Dabei gab es Stimmen, die die Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer thematisierten. Deutsche Wissenschaftler des ,,Bonn International Center for Conversion“ veröffentlichten eine Feldstudie (Januar 2016), in der sie die Repatriierung von Afghanen aus Deutschland als bedenklich und daher für ungeeignet halten. In dieser Studie werden der Wiederaufbauprozess und die Herbeiführung eines gesicherten Friedens in Afghanistan als nicht gelungen bewertet. Dabei wird u.a. auf die physische und wirtschaftliche Unsicherheit wie auf die Perspektivlosigkeit hingewiesen.

    Im Iran sind große Teile der Gesellschaft nicht mit Demokratie, demokratischer Erziehung, Pluralismus und demokratischen Freiheitswerten vertraut. Der Alltag eines Iraners ist geprägt durch staatliche Repression, die sich im Ausdruck von gesellschaftlichen Urteilen gegenüber afghanischen Minderheiten niederschlagen.

    Minderheiten und Flüchtlinge werden als Störenfriede und Eindringlinge bewertet

    Durch die Politik wird dieses negative Bild von Minderheiten weder behandelt noch korrigiert. Vielmehr wird seitens der Staatsführung ein inneres bzw. innenpolitisches Feindbild aufrechterhalten. Im Gegenzug wird über den äußeren bzw. ausländischen Gegner ein nationaler Konsens erzeugt, da im täglichen Inneren erfolgreich ,,Othering“ betrieben wird.  Gesellschaftliche Themen, die lange schon auf eine ehrliche Auseinandersetzung oder Lösung warten, werden auf diese Weise politisch ideologisiert und sozial tabuisiert.

    Soweit ein kurzer Überblick mit Auszügen aus dem Beitrag von Homayun Alam. Der vollständige Aufsatz ist hier nachzulesen: Soziale Frage Iran

    Forschungsschwerpunkte:
    Iran des 20. und 21. Jahrhunderts, Ethnizität, Identität, Nationalismus, Islam, Iranischer Kulturraum, Persianate World, Diaspora, Islam in Deutschland, Biographien, Migration, Fluchtmigration, Westasien, Glokalisation.

  • Frauen und die Flüchtlingshilfe – eine Selbstreflexion.

     

    Was ich daran gut finde? Die Grafik zeigt, auf welche Art und Weise dieser Tag häufig falsch verstanden wird. Der internationale Weltfrauentag (IWF) war ursprünglich – und ist es noch – der Frauenkampftag, kein Tag, an dem man Blumen verschenkt. Die Idee stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von Clara Zetkin, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts als sozialistische Politikerin für Frauenrechte einsetzte. Gefeiert wird an diesem Tag nicht die Frau als Einzelperson. Gefeiert werden politische Erfolge, die feministische Bewegungen auf der ganzen Welt bereits durchgesetzt haben – wie etwa in Deutschland das Wahlrecht für Frauen vor 100 Jahren. Verbunden ist damit aber immer auch der Gedanke: Es gibt noch viel zu tun.

    Viele Frauen werden im Alltag allein gelassen

    Dieses Jahr habe ich den Fehler gemacht, mir auf Twitter die Kommentare zum Tortendiagramm durchzulesen. Die dort kommentierenden Männer (!) waren fast einhellig der Meinung, Frauen bekämen Blumen, weil die Gleichberechtigung hierzulande doch längst erreicht sei. Anstatt eines wütenden Twitter-Gegenkommentars verweise ich hier lieber auf einen guten Kommentar von Eva Horn auf Spiegel-Online. Sie zeigt an Beispielen wie der Hebammenversorgung und Schwangerschaftsabbrüchen, wo Frauen im Alltag immer noch allein gelassen werden.

    In diesem Jahr schließt der Weltfrauentag – zumal so kurz nach der Oscar-Verleihung – außerdem an die #MeToo-Debatte an, die gezeigt hat, dass auch Sexismus und sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft zum Alltag gehören. An dieser Stelle möchte ich die Journalistin Teresa Bücker zitieren, die auf den Punkt bringt, was dabei allerdings zu kurz kam:

    „Zudem verlor sich die #MeToo-Debatte in Deutschland zu oft im Blick auf privilegierte Frauen. Dass sexueller Missbrauch oft in Kontexten extremer Abhängigkeit passiert, zum Beispiel Frauen mit Behinderungen, mit Migrationsgeschichte häufiger betroffen sind oder dass die Unterbringung von Geflüchteten Frauen nicht ausreichend vor Gewalt schützt, sondern diese eher begünstigt, ist bislang kaum adressiert worden. Gerade hier sind Journalist_innen gefragt, die Menschen, die nicht die gleichen Chancen haben, am Diskurs partizipieren zu lassen und ihnen Gehör zu verschaffen“ (aus dem Artikel: #MeToo kam nicht aus dem Nichts).

    Geflüchtete Frauen im öffentlichen Diskurs

    Auch beim Flüchtling-Magazin müssen wir uns fragen, ob wir geflüchteten Frauen genügend Raum geben und ob ihre Stimmen gleichermaßen vertreten sind. Ein kritischer Blick in unsere Redaktion zeigt ein nicht unübliches Bild: (zum Großteil) deutsche Frauen und syrische Männer. Seit längerem beobachte ich, dass sich in den Initiativen, die zur Unterstützung von Geflüchteten entstanden sind, viele Frauen engagieren. Zugleich sind es häufig geflüchtete Männer, die den Aufrufen zur Teilnahme folgen oder selbst Projekte initiieren.

    Woran liegt das?Argumentiert wird oft, geflüchtete Frauen seien schwer zu erreichen. Sie würden selten die Flüchtlingsunterkünfte oder ihre Wohnungen verlassen und blieben lieber unter sich. Davon dürfen wir uns nicht abhalten lassen. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass alle Gruppen unter den neu Ankommenden gehört werden. Inklusion, verstanden als die Idee, etwas gemeinsames Neues zu schaffen, kann nur gelingen, wenn Frauen wie Männer aus unterschiedlichen Herkunftsregionen im öffentlichen Diskurs vertreten sind.

    Solidarität und Dialog im Kampf um Gleichberechtigung

    Doch wie gehen wir auf Frauen zu, die nicht in der Öffentlichkeit stehen wollen? Zwang und Überredung können nicht die Antwort sein. Oft schwingt bei Integrationsmaßnahmen und der Flüchtlingshilfe für Frauen die Haltung mit, „den Anderen“ Emanzipation beizubringen. Erst vor kurzem berichtete meine Familie davon, dass eine in meinem Heimatdorf lebende iranische Geflüchtete von den ortsansässigen Frauen gegen ihren Willen dazu gedrängt wird, ihr einjähriges Kind in die Kita zu bringen – der Integration wegen. Die gleichen Frauen beäugten noch zur Zeit meiner Kindheit andere Frauen mit kritischem Blick, die neben der Haushaltsführung mehr als einem Halbtagsjob nachgingen.

    Niemals dürfen wir uns über die Frauen stellen, die aus anderen Regionen zu uns kommen! Die einzige Lösung kann sein, Solidarität mit allen Frauen zu zeigen, Frauen immer zu fragen, wie man sie unterstützen kann und im Dialog die jeweiligen Denkmuster kennenzulernen, um gemeinsam für eine gleichberechtigte Gesellschaft zu kämpfen. Denn das ist es nach wie vor: ein Kampf, der weitergeführt werden muss und zwar weltweit oder wie Teresa Bücker schreibt: „#MeToo fällt auch in eine Zeit, in der noch einmal mehr Menschen sehr bewusst wahrnehmen, dass Gleichberechtigung längst nicht erreicht ist und dass es sogar wieder salonfähig wird, ihre Notwendigkeit in Frage zu stellen.

    Wie Männer Frauen unterstützen können

    Daher ist es im Grunde egal, wo Frauen aufeinandertreffen und wo sie herkommen, solange wir uns nicht selbst torpedieren, sondern zueinander stehen. Die vielen Frauen, die in der Flüchtlingshilfe engagiert sind, sollten ein besonderes Augenmerk darauf haben. Gelingen kann Gleichberechtigung außerdem nur, wenn wir die Männer in die Pflicht nehmen.

    Beginnen kann man mit den sage und schreibe 100 Hinweisen von Dani Beckett, die beschreibt, wie Männer Frauen an den 364 anderen Tagen im Jahr das Leben leichter machen können anstatt ihnen einmal im Jahr Rosen zu schenken. Hier sei nur der letzte genannt: „Mainly, just listen to women. Listen to us and believe us. It’s the only place to start if you actually want all women to have a ‘Happy International Women’s Day.’“ (Hauptsächlich geht es darum, Frauen zuzuhören und ihnen zu glauben. Wenn ihr wirklich wollt, dass alle Frauen einen schönen Weltfrauentag haben, dann müsst ihr genau damit beginnen.)

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