GEAS-Reform: Europas Bruch mit queeren Menschenrechten

Die Freude ist groß, als das Europäische Parlament und der Rat der EU im Mai letzten Jahres die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschließen. Ein Beweis „europäischer Handlungsfähigkeit“ sei dies, so das Bundesinnenministerium in einer kurz darauf veröffentlichten Stellungnahme. Ein „jahrelang überfälliger Schritt“, freut sich die ehemalige “feministische” Außenministerin Annalena Baerbock. Auch die neue Bundesregierung stellt sich hinter GEAS. Zwischen zähen Verteilungsdebatten und dem endlosen Sterben im Mittelmeer erscheint die Reform wie ein Meilenstein – nur leider in die falsche Richtung.

Im Kern sieht die GEAS-Reform eine Neuausrichtung und Vereinheitlichung des europäischen Asylsystems vor: Asylverfahren sollen künftig an den EU-Außengrenzen stattfinden, mit Schnellverfahren für Menschen aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote. Alle Schutzsuchenden durchlaufen ein verpflichtendes Screening samt Identitäts- und Sicherheitsprüfung. Wer als risikobehaftet gilt oder aus einem vermeintlich „sicheren Herkunftsland“ stammt, wird in geschlossenen Zentren im Rahmen eines Grenzverfahrens festgehalten – auch Familien mit Kindern. Zudem werden Abschieberegelungen verschärft, Fristen für Rechtsmittel verkürzt und die Kriterien für sichere Drittstaaten ausgeweitet. Eine neue Verteilungsregel erlaubt es Mitgliedstaaten, sich durch Zahlungen – auch an Drittstaaten – von der Aufnahme Geflüchteter freizukaufen.

 

Faire und individuelle Asylprüfung? Fehlanzeige!

Diese weitreichenden Änderungen der Gesetze für Schutzsuchende gefährden insbesondere vulnerable Gruppen wie LGBTQIA*+. Weltweit spitzt sich die Lage für queere Menschen weiter zu. Angesichts globaler Krisen, Kriege und dem Aufstieg rechter und queerfeindlicher Ideologien suchen LGBTIQ+ vermehrt Schutz in Europa. Dank der GEAS-Reform finden sie künftig nicht etwa einen Schutzraum vor, sondern ein europäisches Grenzregime, das ihre Menschenrechte, ihre Unversehrtheit und ihr Recht auf Asyl ernsthaft gefährdet. Was für die einen Grund zum Feiern ist, bedeutet für die anderen eine reale Gefahr.

Mit den geplanten Grenzverfahren setzt die EU auf Geschwindigkeit statt Gerechtigkeit. Statt individueller Prüfung zählt im Screeningprozess vor allem die Herkunft. Wer aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote kommt, wird pauschal abgefertigt. Gerade für queere Geflüchtete ist das fatal: Ihre Fluchtgründe – Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt aufgrund einer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung – sind oft sensibel, schambehaftet und schwer offen darzulegen. Isolierende Bedingungen und Zeitdruck kommen erschwerend hinzu. Coming-outs sind hier keine realistische Option, sondern eine Hürde, die viele nicht überwinden können. Die Folge: Legitime Schutzbedarfe bleiben unerkannt, Asylanträge werden vorschnell abgelehnt. Doch damit nicht genug.

 

Strukturelles Versagen vorprogrammiert

Die GEAS-Reform überträgt ausgerechnet uniformierten Polizist*innen die Erkennung besonderer Schutzbedarfe im Grenzverfahren – ein folgenreicher Fehler. Schon jetzt weist die Bundespolizei Asylsuchende an Grenzen zurück. Viele queere Geflüchtete verbinden die Polizei mit Gewalt und Verfolgung, nicht jedoch mit Schutz. Ein vertrauensbasierter Umgang unter solchen Bedingungen ist kaum denkbar. So bleiben gerade diejenigen, die besonderen Schutz benötigen, unsichtbar. Das System scheitert – nicht zufällig, sondern strukturell. Von fairen Verfahren kann unter solchen Bedingungen keine Rede sein.

 

Asylzentren als Orte der Gewalt

Die EU will Geflüchtete im Grenzverfahren in geschlossenen Asylzentren unterbringen. Ein Blick nach Griechenland reicht, um zu verstehen, dass die Isolierung in überwachten Lagerkomplexen eine menschenunwürdige und gefährliche Form der Unterbringung ist. Für LGBTQIA*+ und andere vulnerable Gruppen besteht in solchen Lagern das Risiko, erneut Opfer von Diskriminierung und Gewalt zu werden.

Zudem bleibt die unabhängige Asylberatung im Grenzverfahren für queere Schutzsuchende ein leeres Versprechen. Wer in isolierten, haftähnlichen Lagern untergebracht ist, hat kaum Zugang zu rechtlichem Beistand. Die drastisch verkürzten Fristen tun ihr Übriges: Wird ein Asylantrag vorschnell als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt, bleibt weder Zeit und Raum, die Entscheidung anzufechten. Besonders problematisch ist das für LGBTQIA*+, deren Fluchtgründe häufig nicht erkannt werden. Ohne spezialisierte, zivilgesellschaftlich organisierte Beratung bleiben sie allein – und damit schutzlos einem System ausgeliefert, das ihnen nicht zuhört.

 

Das Fantasma sicherer Drittstaaten

Letztlich treibt die GEAS-Reform die Externalisierung von Verantwortung auf die Spitze. Denn indem die EU künftig massenhaft Länder als sichere Drittstaaten einstuft, legt sie das Schicksal queerer Geflüchteter in die Hände von Verfolgerstaaten. Wer durch einen sogenannten sicheren Drittstaat gereist ist, kann künftig dorthin abgeschoben werden – selbst wenn dort Verfolgung und Diskriminierung drohen. In Marokko, Tunesien und Algerien – um nur einige wenige zu nennen – werden queere Menschen systematisch verfolgt und kriminalisiert. Trotzdem will die EU sie auch künftig in diese Staaten zurückschicken.

Statt Schutz zu bieten, setzt die EU auf Abschottung. Damit verletzt sie ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen. Leidtragende sind jene, die am dringendsten Sicherheit brauchen. Dabei gilt im EU-Recht wie auch in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention das Prinzip des Non-Refoulement: Schutzsuchende dürfen nicht in Staaten zurückgeschickt werden, in denen ihnen Verfolgung, Folter oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Genau dazu hat sich die EU eigentlich verpflichtet.

Während die EU sich weiter ihrer Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt rühmt, schafft sie das Asylrecht für queere Schutzsuchende in der Praxis ab. Mit der Reform werden LGBTQIA*+ in Europa künftig weniger Schutz erfahren als je zuvor, ihre Verfolgung wird sehenden Auges in Kauf genommen. Nein, GEAS ist kein Grund zum Feiern. GEAS ist die Offenbarung europäischer Scheinheiligkeit im Moment der größten Not.

 

 

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